Der Wald ist schweigen
er sich verhalten soll. Sein Blick huscht von Manni und Judith zu dem Rothaarigen und dann zu der Buddha-Figur. Einen Moment lang sieht es so aus, als ob er sich einfach umdrehen und wegrennen will. Manni macht einen Schritt vorwärts.
»Es ist wichtig. Und es eilt.«
Der Rothaarige nickt dem Jungen zu.
»Gib Heiner Bescheid, ja, aber ohne die anderen groß zu stören.«
Augenblicklich dreht sich der Junge um und verschwindet durch die Tür hinter dem Tresen. Seine nackten Fußsohlen klatschen leise auf die Holzdielen. Der Rothaarige deutet auf die Sitzkissen.
»Wartet hier.« Er macht sich an dem Computer zu schaffen, weigert sich, ihre Fragen zu beantworten. »Fragt die Chefs«, ist alles, was sie ihm entlocken können. Nach einer Weile verschwindet auch er durch die Tür hinter der Rezeption.
Wieder schweigen sie und vermeiden es, sich in die Augen zu sehen. Manni zerbeißt ein weiteres Pfefferminzbonbon. Wie soll ich mit ihm umgehen, überlegt Judith. Ich war noch nie gut in Smalltalk. Vielleicht ist das hier tatsächlich eine Chance, aber ich nutze sie nicht, weiß nicht wie.
Die Tür hinter der Rezeption schwingt geräuschlos auf und eine magere Frau mit dünnem hennaorangerotem Haar steht vor ihnen.
»Beate von Stetten. Ich leite den Sonnenhof gemeinsam mit meinem Mann. Sie sind von der Polizei und wollen mich sprechen.« Sie verzieht die Lippen zu einem freudlosen Lächeln. »Kommen Sie, aber bitte ziehen Sie Ihre Schuhe aus.«
Sie folgen Beate von Stetten durch einen schwach erleuchteten Flur eine Holztreppe hinunter. Ihre Kleidung – eine weiße, seidige Pluderhose, eine violette Tunika und eine Wollweste in der gleichen Farbe – sieht aus, als habe sie sie zwei Nummern zu groß gekauft. Sie trägt wollene Pulswärmer und Stulpen, obwohl es im Haus angenehm warm ist, als sei sie es gewohnt zu frieren. Am Ende eines weiteren Flurs öffnet Beate von Stetten eine Tür und winkt sie herein. Hinter einem Schreibtisch mit Flatscreen-Monitor steht ein Regal mit Büchern. Es gibt einen Altar mit einem bronzenen Buddha und einer Skulptur mit Elefantenkopf und einen Berg Sitzkissen in Orange- und Violetttönen. Ein kahlköpfiger Mann mit rundem Trommelbauch thront darauf und sieht selbst aus wie ein Buddha. In seinem Rücken drückt sich ein Schwarm bunter Fische an einer Aquariumswand entlang, als gäbe es auf der anderen Seite für sie ein besseres Leben. Beate von Stetten lässt sich im Schneidersitz auf einem Samtkissen nieder und bedeutet Judith und Manni mit ihrer mageren Hand, es ihr nachzumachen.
»Setzen Sie sich bitte. Mein Mann, Heiner von Stetten.«
Der Glatzkopf nickt und streckt die Hand aus. Ehepaare, denkt Judith. Es ist schwer vorstellbar, dass dieser vitale, rundliche Glatzkopf und die verhärmte Beate einander in Liebe oder gar Leidenschaft zugetan sind. Sie fühlt den Blick Heiner von Steffens auf sich ruhen, nicht indiskret, aber doch länger, als es ihr angenehm ist.
»Es geht Ihnen nicht gut«, sagt er zu ihr.
»Das steht hier wohl kaum zur Debatte.«
Er wendet seinen Blick nicht von ihr ab und sie hat plötzlich das Bedürfnis, aufzuspringen und sich zu verstecken. »Verzeihen Sie, das liegt an meinem Beruf. Ich sehe solche Dinge nun einmal.«
»Dinge«, echot Judith. Ein Gefühl unendlicher Schwäche droht sie zu überwältigen.
»Dinge, die mir etwas darüber sagen, wie es den Menschen wirklich geht. Hinter ihrer Fassade, gewissermaßen.«
»Heiner kann die Aura eines Menschen wahrnehmen«, erläutert Beate von Stetten. »Er ist ein international anerkannter Spezialist.« Sie spricht emotionslos. Vielleicht hat sie ihren Mann schon zu oft loben müssen. Vielleicht ist sie auch einfach nur müde. Sie sieht ungesund aus. Zwischen ihrer Nase und den Mundwinkeln haben sich tiefe Falten eingegraben. Ihr Scheitel leuchtet weiß.
»Hören Sie, meine Kollegin hat Recht. Ihre Aura steht hier nun wirklich nicht zur Debatte«, meldet Manni sich zu Wort. Überrascht sieht Judith ihn an, aber er weicht ihrem Blick aus. Auch Heiner von Stetten mustert ihn aufmerksam.
»Das sollte sie aber«, sagt er dann. »Sie ist nämlich gefährlich dunkel.« Er sieht Judith direkt in die Augen. »Sie sind traurig, ist es nicht so? Schon lange traurig.« Er nickt bedächtig, wie ein gütiger Großvater. »Ja, ich bin mir sicher, dass es so ist. Eine verschleppte Traurigkeit. Sehr gefährlich. Ihre Aura hingegen«, er wendet sich an Manni, »ist hell und unversehrt, ein transparentes
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