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Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Mustermann
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wir sehen, was wir fühlen, nicht das, was wirklich vorhanden ist. Der Bach zu ihren Füßen plätschert, die Stämme der Fichten knarzen. Vorsichtig tastet sie sich weiter am Bachlauf entlang. Jeder ihrer Schritte klingt wie eine Explosion.
    Es dauert drei Stunden, bis sie bereit ist, sich einzugestehen, dass alles Suchen und Rufen und Pfeifen nach Ronja sinnlos ist. Weit nach Mitternacht kämpft sie sich zurück zu ihrem Wagen. Das Ortsschild von Oberbach reflektiert im Licht der Autoscheinwerfer, als sie ohne Ronja zurück zum Forsthaus fährt. Das höhnische Zwinkern eines bösen gelben Auges.
     
    ***
    Er kommt zu ihr in der Tiefe der Nacht. Drängt sich unter ihre Bettdecke, drängt sich an sie. Sie rollt sich auf die Seite, nimmt seinen festen glatten Körper in die Arme, der nach Wald riecht, ein wenig nach Gras und nach Moschus. Sie liegen eine Weile still und atmen im Gleichtakt. Sie denkt an ihn. Nicht, will sie sagen, nicht schon wieder, das ist nicht recht. Aber jetzt macht sich der Zeigefinger des anderen auf die Reise über ihren Körper. Gleitet über Taille und Arm, kreist um ihren Bauchnabel, umschmeichelt ihre Hüftknochen, zeichnet die Konturen ihrer Oberschenkel nach. Rauf und runter, rauf und runter, bis sie gar nicht mehr denken kann.
    »Als Kind hatte ich immer das Gefühl, dass mir die Dinge entgleiten.« Seine Stimme ist nur ein warmer Hauch an ihrem Ohr. Rauf und runter gleitet sein Zeigefinger, unendlich lockend, unendlich sanft. Rauf und runter. Sie schmiegt sich dichter an ihn. Es ist so anstrengend zu sprechen. Sie will nicht sprechen. Sprechen ist Verrat. Andi ist nicht da, aber der andere ist zu ihr gekommen, er ist bei ihr, nur das zählt.
    »Es gab keine Sicherheit, weißt du.« In seiner Stimme schwingt jetzt ein Unterton, dunkel und konzentriert wie Kaffeesatz.
    »Warum?« Es ist so schwer, die Bedeutung seiner Worte zu verstehen, weil sein Zeigefinger jetzt zu ihren Brüsten kriecht und sie ganz zappelig macht. Sie versucht, seine Hand einzufangen, aber er lässt es nicht zu.
    »Vier Kinder«, murmelt er an ihrem Hals. »Drei Väter. Keiner ist geblieben.«
    »Mein Vater ist auch weg.« Sie schafft es immer noch nicht zu sagen, tot.
    »Ich weiß«, murmelt er. »Ich weiß.«
    Tot, tot, tot. Sie will nicht darüber nachdenken, nicht darüber sprechen. Sie tastet nach seinem Penis und reibt ihn, bis ihr Geliebter nicht mehr von seinen Wunden spricht, sondern sie gewähren lässt und den Namen sagt, den er ihr gegeben hat, als sie sich zum ersten Mal liebten. Parawati. Sie windet sich aus seinem Griff und legt sich auf ihn. Andi hat immer ihren richtigen Namen gesagt. Sie bewegt sich schneller und beginnt zu vergessen. Auch als ihre Körper sich wieder beruhigt haben, lässt sie Jey nicht los. Im Wald sei ein Toter gefunden worden, haben die Polizisten vorhin nach der Meditation gesagt. Morgen werden sie wiederkommen und alle befragen. Aber morgen ist morgen, und jetzt, hier, gibt es keinen Tod. Der Mann neben ihr beginnt wieder zu sprechen, aber sie verschließt seine Lippen mit einem Kuss.
    »Nicht mehr reden, bitte. Ich bin so müde.«
    Als sie erwacht, ist es noch immer dunkel, aber er ist fort. Unwirklich wie ein Traum erscheint ihr nun die Erinnerung an ihre nächtliche Liebe. Ist er überhaupt bei ihr gewesen? Sie will seinen Namen rufen, dagegen protestieren, dass er sie allein lässt, wie ihr Vater, wie Andi, wie alle Männer, die sie je geliebt hat, aber sie wird einfach nicht wach genug dafür.

Montag, 27. Oktober
    Sie erwacht mit einem Ruck. Sie liegt allein in ihrem Bett. Wieviel Uhr ist es? 7.15 Uhr. Viel zu spät. Sie zieht Unterwäsche, Jeans und Sweatshirt an, die in einem wilden Knäuel auf dem Boden liegen. Duschen wollte sie eigentlich, frische Sachen anziehen, aber dafür bleibt jetzt keine Zeit. Sie fährt in ihre Clogs und greift im Hinausrennen ein Paar Wollsocken aus der Kommode. Ihre Blase drückt und sie hat einen unangenehm pelzigen Geschmack im Mund, aber sie zwingt sich, nicht daran zu denken, sondern rennt über die nasse Wiese zum Haupthaus. Vielleicht kann sie sich hineinschleichen, ohne dass jemand es merkt. Sie öffnet die Tür zum Meditationsraum und schlüpft in den Saal. Beate und Heiner sitzen im Lotussitz auf der Empore, die Augen geschlossen, die Gesichter entspannt. Laura lässt sich mit angehaltenem Atem in den Schneidersitz sinken. Ihr Herz klopft wild, sie schließt die Augen. Anandoham, anandoham. Sie riecht ihren Armschweiß, fühlt,

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