Der Wald ist schweigen
wie das T-Shirt unter den Achseln klebt. Hoffentlich merkt das keiner. Ein Gong ertönt, das Licht geht an, ganz langsam kommt Bewegung in die Knienden, ein behutsames Strecken und Dehnen. Laura öffnet die Augen und sieht sich um. Direkt neben ihr kniet Vedanja. Mist, Mist, Mist, warum hat sie nicht aufgepasst und sich ausgerechnet neben ihn gesetzt. Er lehnt sich zu ihr herüber, fasst sie am Arm.
»Wir müssen reden, komm bitte gleich in mein Zimmer.« Ich hab keinen Bock, mit dir zu reden, will sie sagen, traut sich aber nicht. Sie unterdrückt den Impuls, Vedanjas Berührung von ihrem Arm zu wischen. Glibberhände, Schneckenhände. Glibsch, glibsch. Sie versteht nicht, warum ihre Mutter so große Stücke auf Vedanja hält und ihr immer wieder nahe legt, sich ihm anzuvertrauen. Die ist einfach froh, dass sie dich los ist, flüstert diese bittere Stimme in ihr, die in den letzten Monaten ein ständiger Gast in Lauras Kopf geworden ist. Die will bloß ihre Ruhe haben und deshalb guckt sie gar nicht richtig, wie Vedanja wirklich ist. Die sieht bloß, dass das der pädagogische Leiter vom Sonnenhof ist, der Vertrauensmann, ha, ha, ein Bruder ihrer besten Freundin, und das ist ihr genug. Die glaubt, Vertrauen ist was, was man einfach so auf Befehl vom einen auf den anderen übertragen kann, aber so ist es nicht. In Wirklichkeit bist du ihr ganz egal, in Wirklichkeit will deine Mutter doch nur mit ihrem neuen Macker bumsen und dabei nicht dauernd durch dich daran erinnert werden, dass sie immer noch mit deinem Vater verheiratet ist, zischt die Stimme.
»… also müssen wir heute Mittag noch einmal hier zusammenkommen und der Polizei ein paar Fragen beantworten«, sagt Beate. »Es tut uns wirklich Leid, dass eure Seminare auf diese Weise unterbrochen werden, aber ich fürchte, das lässt sich einfach nicht ändern.«
Der Tote im Wald! Mit einem Ruck ist Laura wieder in der Gegenwart. Wo haben sie den noch gefunden, was hat Beate gerade gesagt – auf einem Hochsitz? Stopp, Laura, befiehlt sie sich. Stopp! Das hat überhaupt nichts zu bedeuten. Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun.
»Okay, Leute, heute Vormittag machen wir weiter wie gewohnt. Yoga ist also hier im Saal, die Ayurveda-Leute treffen sich in einer Viertelstunde in der Bibliothek …«
Laura steht auf und einen Moment lang wird ihr schwarz vor Augen. Vedanja ist augenblicklich neben ihr und legt den Arm um sie.
»Du siehst blass aus, kleine Laura.«
»Es geht schon.« Sie spannt ihre Schultern an und wünscht sich Igelstacheln. Lass mich sofort los, Glibberfinger – warum schafft sie es nicht, das laut zu sagen?
»Komm, wir holen uns einen Tee, setzen uns in mein Büro und quatschen ein bisschen.« Quatschen, das soll wohl cool klingen. Ekelhaft, wie er sich anbiedert. Vedanja scheint ihre Abwehr nicht zu bemerken.
»Ich hab versprochen, dass ich in der Werkstatt helfe, bevor ich mich um die Schafe kümmere.«
Sie wartet seine Antwort nicht ab, sondern drückt sich an ihm vorbei und rennt die Treppe hinauf.
***
Die Luft sticht kühl und scharf in ihre Lungen, aber davon lässt sie sich nicht aufhalten. Nach etwa einem Kilometer findet sie ihren Rhythmus. Jetzt ist sie eine perfekte Maschine, geschmeidig, ausdauernd, trittsicher. Muskeln und Sehnen in perfekter Harmonie. Ihr Hirn arbeitet in einem halbbewussten Zustand, der wahrnimmt, was um sie ist, und doch die Gedanken fliegen lässt. Ohne ihr Tempo zu verlangsamen streift sie das Sweatshirt über den Kopf und bindet es um die Hüften. Ronja stiebt vor ihr her, verschwindet im Unterholz und holt mit fliegenden Ohren wieder auf. Einen Moment lang droht die Erinnerung an die letzte Nacht Diana erneut zu überwältigen. Diese plötzliche Gewissheit, dass Ronja tot ist. Dass etwas im Wald sie beobachtet, ja, sie verfolgt. Und dann saß Ronja, als sie nach ihrer stundenlangen, panischen Suche im Wald zurück ins Forsthaus gekommen ist, friedlich und unversehrt auf der Fußmatte. Diana beschleunigt ihr Tempo. Warum hat sie sich im Wald so gehen lassen, statt von selbst auf die Idee zu kommen, dass die Hündin nach Hause gelaufen sein könnte? Sie springt über eine Pfütze. Sie muss cool bleiben, darf nicht zulassen, dass dieser Tote vom Hochsitz ihr Leben durcheinander wirft. Sie wird nicht hysterisch werden.
Ein paar verspätete Stare tanzen im weißen Himmel über dem Tal, als wollten sie Schwung holen für die Reise, die ihnen bevorsteht. Die lange Reise nach Afrika, die sie, Diana,
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