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Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Mustermann
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Bewegung. Na also. Irgendwo dort unten im Dunkel ist der Rehbock, dessen Witterung sie aufgenommen hat. Ich nehme sie besser an die Leine, entscheidet Diana, aber es ist zu spät. Ihre Hand greift ins Leere, die Hündin sprintet los und ist verschwunden. Eine Weile kann Diana noch das Klimpern der Hundesteuermarke am Halsband hören, Rascheln und eifriges Schnobern. Dann etwas wie ein freudiges Kläffen und es wird still.
    »Ronja?«
    Diana steht und wartet. Vergebens. Irgendwo dort unten im Tal muss Ronja sein. Sie zieht die Hundepfeife aus der Jackentasche und pfeift.
    Kein Bellen. Nicht das leiseste Knistern. Kein Hund.
    Diana hastet los und verknackst sich beinahe den Fuß dabei. Himmel! Jetzt benimm dich nicht wie eine Anfängerin. Sie zerrt die Taschenlampe aus der Jackentasche. Baumstämme springen sie an, die harzige Rinde auf einmal plastisch und schimmernd, dafür wirkt die Schwärze außerhalb des Lichtkegels nun bodenlos. Wohin ist Ronja gelaufen? Den Berg hinunter, so viel hat sie gesehen. Wieder stolpert sie. Der Boden ist uneben, Wurzeln beulen aus seiner Oberfläche hervor wie Krampfadern. Sie entdeckt einen Bachlauf und läuft darauf zu. Hier, in der Senke an seinem Ufer, kommt sie besser voran. Der aufgeweichte Boden saugt mit leisem Schmatzen an ihren Gummistiefeln.
    Sie läuft, so schnell sie kann, und benutzt immer wieder die Hundepfeife, der die Hündin sonst augenblicklich gehorcht. Farne und Gräser durchnässen Dianas Hosenbeine, Brombeerranken reißen an ihrer Jacke, sie bemerkt es kaum. Wie lange braucht sie ins Tal? Sie will nicht innehalten, um auf ihre Armbanduhr zu sehen, sie will Ronja finden.
    Sie erreicht die Talsohle und hält inne. Kein Hecheln, kein Rascheln eifriger Hundepfoten im Laub, nicht das kleinste Lebenszeichen. Diana steht reglos. Erneut ruft sie den Namen der Hündin, aber ihre Stimme trägt nicht, als ob der Wald näher an sie heranrückt, sie umzingelt und alles, was von ihr ausgeht, abfängt und dämpft. Die Bäume haben Augen, denkt sie. Irgendetwas sitzt zwischen den Stämmen und starrt mich an. Das ist natürlich vollkommen lächerlich. Sie versucht ihren Atem zu kontrollieren, der auf einmal viel zu heftig aus ihren Lungen drängt, viel zu laut für die dunkle Stille, die sie umfängt.
    Der Wald beobachtet mich, er lauscht, er wartet. Das Gefühl lässt sich nicht ignorieren. Als ob etwas gestorben ist, denkt sie. Als ob jemand gestorben ist. Zu viel Dunkelheit. Zu viel Stille. Eine pulsierende Stille wie in Afrika, wenn die Frauen ihre Trauer herausgeschrien haben und sie endlich aushalten können. Eine ungeschminkte Trauer, die niemand mit Plattitüden überspielt, die ja doch nichts helfen im Angesicht des Todes. Im Angesicht des Todes, hämt ihr Über-Ich. Jetzt werd mal bloß nicht melodramatisch. Es hilft nichts, Panik springt sie an, ein wildes, unbezähmbares Tier. Etwas starrt mich an. Jemand ist hier. Sie nimmt die Taschenlampe in die linke Hand, greift mit der rechten nach der Flinte. Umklammert sie. Richtet den Lichtkegel entschlossen zwischen die Baumstämme. Nichts ist dort zu sehen, was auch nur im Entferntesten bedrohlich wäre. Nichts hat hier Augen, niemand ist hier und beobachtet mich, versucht sie sich zu beruhigen. Aber es hilft nichts. Ihr Herz jagt, die Bilder des Morgens überfallen sie erneut, roh und ungefiltert, viel zu nah. Wie die Sonne auf den Hochsitz schien und unbarmherzig jedes Detail beleuchtete. Wie die Krähen in die Kanzel geflogen sind, wie in ein gigantisches Vogelfutterhäuschen. Wie sie in der toten Eiche saßen und darauf warteten, dass sie weiterfressen konnten. Wie zerstört der Körper des Toten war. Wie blond seine Haare. Blond wie ihre eigenen. Wie weit bin ich eigentlich vom Erlengrund entfernt? Zwei Kilometer, drei? Wo ist Ronja? Sie wird doch nicht etwa dorthin … aber das wäre ja vollkommen absurd. Ich hatte sie ja nicht einmal dabei, heute Morgen.
    Nein, Ronja kann nicht einfach verschwunden sein. Es muss eine Erklärung geben, es gibt für alles eine Erklärung. Diana zwingt sich, nachzudenken. Vielleicht scheut Ronja ja vor dem Licht der Taschenlampe zurück. Sie schaltet sie aus, steht, die Hahndoppelflinte fest in beiden Händen, und horcht, wie der Wald um sie herum allmählich aus der Stille erwacht. So ist es natürlich gar nicht, denkt sie. Wir lassen uns nur immer wieder von unseren beschränkten Wahrnehmungsfähigkeiten täuschen. Gib uns Licht und wir können nicht mehr hören. Gib uns Musik und

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