Der Wald ist schweigen
nicht mehr machen wird. Aber hier in Deutschland wird sie sich die Bewegungsfreiheit nicht nehmen lassen. Ich bin ein freier Mensch, sagt sie sich. Dies ist mein Revier. Ich werde am Erlengrund vorbeilaufen und dann durchs Schnellbachtal zurück, am Sonnenhof vorbei. Ich werde mich von einem Toten nicht einschüchtern lassen, von einem anonymen Anrufer nicht und auch nicht von der Polizei. Eine Last scheint sich mit diesem Entschluss von ihren Schultern zu heben. Natürlich ist es vollkommen absurd, zu denken, dass der Wald sie in der letzten Nacht beobachtet hat. Sie steigert ihr Tempo noch etwas und genießt ihre Kraft, bis der glitschige Morast am Rand des Erlengrunds sie zum Anhalten zwingt. Der Hochsitz scheint so nah wie gestern, doch von den Krähen ist nichts mehr zu sehen. Zwei Polizeiautos parken am Rande der Lichtung.
Unwillkürlich weicht sie zurück ins Unterholz. Warum ist sie hierher gelaufen? Hier hat sie nichts verloren. Sie nimmt die Hündin fest an die Leine und läuft hinter dem Gestrüpp am Rande der Lichtung entlang, bis sie auf den alten Reitweg stößt, der parallel zum Fahrweg ins Schnellbachtal führt. Nach einigen hundert Metern wird der Boden fester und sie findet ihr Lauftempo wieder, genießt die fliegende Leichtigkeit eines guten Trainings, lässt den Erlengrund weit hinter sich zurück. Nach etwa 2.0 Minuten hat sie die Talsohle erreicht, rechts von ihr beginnt das Gelände allmählich in Richtung der B 55 anzusteigen. Sie hört ein Auto fahren, dann noch eines.
Es ist Zeit, die Nachtgespenster endgültig zu vertreiben. Schon bald entdeckt sie den Bachlauf, an dem sie sich gestern Nacht orientiert hat. Es gibt überhaupt keine Zweifel, überdeutlich sind ihre Fußspuren im Matsch zu erkennen und sie folgt ihnen bergan. Immer wieder sieht sie sich aufmerksam um, entdeckt aber nichts außer den harzigen, schuppigen Stämmen eines überalterten Fichtenbestands, der seine Wurzeln tapfer in den steilen Hang gräbt. Wahrscheinlich war ich gestern einfach überreizt, denkt sie. Das wäre ja auch kein Wunder. Erst finde ich diese schreckliche Leiche, dann läuft mir auch noch mein Hund davon. Sie packt Ronjas Leine fester. Etwas sitzt zwischen den Ästen und starrt mich an. Wieder ist da dieses Gefühl. Sie verbietet es sich.
Als sie schon beinahe an der B 55 angekommen ist, tritt ihr rechter Fuß auf etwas Hartes. Es gibt nicht nach, knackt nicht wie ein Ast. Klein, länglich, glatt. Sie tritt einen Schritt zur Seite und sieht auf den Boden. Ein Handy, halb unter braunem Farn verborgen. Nass und verdreckt. Es steckt in einer Schutztasche aus durchsichtigem Plastik und sieht aus, als ob es schon eine ganze Weile dort läge. Sie hockt sich hin und nimmt es in die Hand. Kein sehr teures Gerät, ein Siemens, sie hat selbst einmal so eines gehabt. Die Menschen sind Schweine, denkt sie frustriert. Nirgendwo ist der Wald vor ihnen sicher. Überall hinterlassen sie ihre Spuren. Sie mustert die Fundstelle auf der Suche nach einer Handtasche, einer Brieftasche, irgendetwas, was zu dem Handy gehören könnte. An einer Brombeerranke hängt etwas Violettes, sie greift danach, lässt es sofort wieder los. Nur ein verschlissener Stofffetzen. Sie hebt das Handy auf und zieht es aus der Schutzhülle. Es wirkt erstaunlich unversehrt. Ein Siemens S 35, anthrazitfarben. Sie drückt auf ein paar Tasten, aber es funktioniert nicht. Natürlich nicht, wer weiß, wie lange es hier gelegen hat. Die Schutzhülle ist ganz blind und bemoost. Sie dreht das Handy herum. Auf die Rückseite hat jemand ein verschnörkeltes Zeichen gemalt. Darunter steht etwas, in handgemalten Goldbuchstaben. Vielleicht ein Name. »DARSHAN’S«.
***
Dort, wo bis vor kurzem noch die Gebäude der chemischen Fabrik gestanden haben, schiebt sich ein Bagger durch den nassen Sand. Nur den alten Wasserturm haben sie stehen lassen, er wirkt nackt und deplatziert. Lange ist seine Backsteinsilhouette das Wahrzeichen einer Fabrik gewesen, die dem Stadtteil Kalk Identität gegeben hat, nun ist sie das Denkmal einer in Trümmer gesprengten Ära, in der Männer mit schmutziger Arbeit solides Geld verdienten. Kalk hat die höchste Arbeitslosenquote Kölns. Irgendjemand hat neulich in der Kantine erzählt, dass auf dem alten Fabrikgelände ein Shoppingcenter gebaut wird. Judith lehnt an der Fensterfront des Besprechungszimmers im Polizeipräsidium und beobachtet, wie der Bagger seine Stahlschaufeln in die Fundamente der Werkhallen gräbt. Ihr Kaffee
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