Der Wald ist schweigen
die Tischplatte gestützt, die Füße auf einen Stuhl gelegt. Als sie fertig gegessen hat, öffnet sie eine Flasche Reissdorf-Kölsch und trägt sie hinüber ins Wohnzimmer. Sie setzt sich auf ihren Lieblingsplatz auf der Fensterbank, die Beine gekreuzt, eine Decke über den Knien, trinkt und raucht. Über ihrer Dachterrasse stehen nur wenige Sterne, sie glitzern nicht, wirken wie Andeutungen. Über dem Schnellbachtal kann man bestimmt die Milchstraße sehen, aber weder ihre Beziehung zu Martin noch den blonden Toten kann das retten. Ich werde herausfinden, was mit dir geschehen ist, verspricht sie ihm stumm.
Neben dem Sofa liegt noch Martins zerlesene Wochenendlektüre, Frankfurter Rundschau, TAZ und Handelsblatt. Hätte er nicht wenigstens seinen Müll wegräumen können? Du schaltest mich aus für deine Toten, an, aus, an, aus – wie eine gottverdammte Lampe, hat er geschrien. Ich will verdammt noch mal mehr als Sex und ein paar weinselige Abende. Ich will ein Leben mit dir. hiebe, Kinder, lachen, weinen, gemeinsam alt werden. Das volle Programm. Aber das ist mehr, als sie ihm geben kann. »Traurigkeit«, sagt sie zu ihrem Spiegelbild in der Scheibe, »was soll ich damit? Martin ist fort, das habe ich so gewollt. Ich kann jetzt nicht um ihn weinen.«
Judith presst die Stirn an die kühle Fensterscheibe, wie sie es als Mädchen getan hat, wenn ihre Brüder nebenan die Zimmertür versperrten, eingeigelt in ihrer Zweisamkeit wie in einem warmen, seidigen Kokon. Wieder befällt sie das Gefühl aus dem Traum, intensiv und dringlich. Gefahr, die sie nur ahnen kann. Morgen wird sie die Ermittlungen in die Hand nehmen. Morgen wird sie einen Weg finden, mit Manni klarzukommen. Sie drückt die Zigarette aus und dreht sogleich eine neue, obwohl ihre Lunge schon schmerzt.
***
Nachts sprechen sie niemals, mit niemandem, und das ist gut so. Die Menschen reden zu viel und verlieren darüber jedes Gefühl für die wahre Beschaffenheit der Welt. Sinnentleertes Geplapper, denkt Vedanja. Kein Wunder, dass es so viele Zwiste und Kriege gibt, wenn die Menschen das Schweigen nicht pflegen. Er verneigt sich vor dem Buddha in der Empfangshalle und prüft, ob seine Blumen genügend Wasser haben, um durch die Nacht zu kommen. Er betritt das Büro und vergewissert sich, dass alle Computer ausgeschaltet sind. Er schließt die Tür sorgfältig ab und schiebt den Schlüssel in die Hosentasche. Man muss vorsichtig sein. Vor ein paar Wochen hat er, als er von seinem nächtlichen Kontrollrundgang wieder ins Haus gekommen ist, Laura dabei überrascht, wie sie versuchte, von Karolas Rechner aus ins Internet zu gehen. Beinahe hat es so ausgesehen, als ob sie weinte, aber als er sie ansprach, hat sie sofort wieder diese altkluge Selbstherrlichkeit an den Tag gelegt, zu der nur Teenager fähig sind. Stocksteif hat sie sich in seinen Armen gemacht und als er trotzdem nicht aufgab, hat sie ihn mit ihrem Holzclog auf den Zeh getreten.
Vedanja nimmt seine Draußenlatschen aus dem Regal und zieht die Haustür hinter sich zu. Es wird eine Lösung geben, es gibt für alles eine Lösung, wenn man nur vertraut und auf den richtigen Moment wartet. Er braucht keine Taschenlampe, um sich auf dem Gelände des Sonnenhofs zurechtzufinden. Nur in wenigen Gästezimmern brennt noch Licht. Vedanja läuft zum Schnellbach, schöpft sich das kalte Wasser ins Gesicht, trinkt ein paar Schlucke in langen Zügen. Es schmeckt nach Kalk, Metall und Sand. Zuhause, denkt er. Er watet durch den Bach und wandert zu den Schafställen. Er überprüft Shivas Tempel, ein achteckiges Holzgebäude, das sie ein wenig oberhalb des Sonnenhofs in den Hang gebaut haben. Eine leichte Böe trägt die melodischen Akkorde der Bambuswindspiele in die Nacht. Er steht und lauscht und fühlt sich beschenkt.
Achte bitte ein bisschen auf meine Tochter, hat Lauras Mutter, die schöne Hannah Nungesser, zu ihm gesagt, als sie ihre Tochter im Sommer herbrachte. Ich weiß, dass sie zur Zeit sehr unzugänglich und schwierig ist, aber das heißt nicht, dass sie niemanden braucht. Laura habe es schwer gehabt in den letzten Jahren, vor allem aber in den letzten Monaten. Sie müsse auftanken, brauche Abstand und Ordnung. Mach dir bitte keine Sorgen, Hanna, hat er gesagt und sich darüber gewundert, dass er nicht fragte, warum ein siebzehnjähriges Mädchen so dringend Abstand von seiner Schule, seinen Freunden und vor allem von seiner Mutter braucht. Irgendetwas in Hannas reservierter Höflichkeit
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