Der Wald ist schweigen
Boden weiter.
Als sie den Lichtschalter erreicht hat und das Wohnzimmer ins schützende Dunkel taucht, ist sie schweißgebadet und zittert so stark, dass sie auf dem Boden sitzen bleibt. Augenblicklich ist Ronja bei ihr und beschnuppert ihr Gesicht. Diana lehnt den Rücken an die Wand, nimmt die Hündin und drückt sie an ihre Brust, das warme, seidige Fell und das stetige Pochen ihres Herzens eine einzige Beruhigung.
»Still, Ronja, ganz still.«
Lange sitzen sie so da, wie lange, vermag Diana später nicht zu sagen. Erst als sie sicher ist, dass ihre Beine sie wieder tragen, gibt sie Ronja frei. Im Dunkeln tastet sie sich durch den Flur in ihr Schlafzimmer, wo sie, ohne Licht zu machen, die Flinte vom alten Hesse unter dem Bett hervornestelt und entsichert. Das Gewehr schussbereit unter den Arm geklemmt schleicht sie ins Obergeschoss und geht dort systematisch von Fenster zu Fenster, als wäre das Forsthaus eine Festung, die es zu verteidigen gilt. Es hat zu regnen aufgehört und ein silbriger Dreiviertelmond gibt genug Licht, dass sie Details erkennen kann: Die Gartenbank vor der Küche. Den Holztisch auf der Wiese, die Spaliere für die Bohnen im Gemüsebeet, die Forsythiensträucher und den Flieder. Noch weiter hinten im Garten die Obstbäume und schließlich den Jägerzaun, an dem im Sommer Fingerhut, Malven und Wicken blühen. Aber sosehr sie sich auch anstrengt, sie kann nichts Ungewöhnliches erkennen. Wer auch immer sie beobachtet hat – wenn überhaupt jemand sie beobachtet hat – ist nicht mehr da. Oder er hat sich in den Wald zurückgezogen.
***
Er hat es gewusst, von Anfang an gewusst, dass er sich auf Kriminalhauptkommissarin Judith Krieger nicht verlassen kann. Manni knirscht mit den Zähnen, als er hinter seiner Kollegin und Juliane Wengert zurück ins Wohnzimmer geht. Warum müssen Frauen sich in ihre Gefühle immer so hineinsteigern? Warum müssen sie immer so hysterisch werden? Obwohl, die Wengert scheint eher eine von der unterkühlten Sorte zu sein. Die ganze Situation oben im Badezimmer war ihr sichtlich peinlich, und trotzdem hat sie Haltung bewahrt. Es wäre nett, wenn Sie mich einen Moment allein ließen, hat sie gesagt, nachdem er seine Pistole weggesteckt hatte und die Krieger endlich kapierte, dass sie sich soeben grandios lächerlich gemacht hatte. Die Wengert hat das natürlich auch bemerkt und sich entsprechend hoheitlich benommen. Hat ihnen die Badezimmertür vor der Nase zugemacht und drinnen, den Geräuschen nach zu urteilen, in aller Ruhe das vollgekotzte Klo geputzt, sich Hände und Gesicht gewaschen und gegurgelt. Als sie mit frischem Make-up wieder in den Flur trat, lächelte sie. Kalt wie eine Hundeschnauze.
Diese ganze Situation läuft völlig aus dem Ruder, denkt Manni grimmig. Es ist immer heikel, mit Angehörigen zu sprechen, solange deren Verhältnis zu einem Mordopfer noch nicht hundertprozentig feststeht. Taktieren muss man da – so viele Informationen wie möglich herausbekommen, so wenig wie möglich vom Ermittlungsstand preisgeben – denn nichts kann peinlicher sein, als wenn man eine Todesnachricht überbringt und sich dann herausstellt, dass der vermeintlich ermordete Ehemann in Wirklichkeit mit seiner Geliebten Ferien in der Südsee macht. Außerdem gehört zum Taktieren, dass man sich, Herrgott noch mal, beherrscht. Dass man cool bleibt, damit man die Kontrolle über die Situation behält. Und genau das können sie jetzt nach Judith Kriegers Auftritt vergessen. Er persönlich hat keine Sekunde geglaubt, dass die Wengert sich was antun wollte. Kann sein, dass sie wirklich eine Magen-Darm-Grippe hat. Kann sein, dass sie vor lauter Stress gekotzt hat oder bulimisch ist. Auf jeden Fall wollte sie Zeit gewinnen, da ist er sicher. Also Angriff, beschließt Manni. Miss Marmor knacken.
»Sie erlauben, dass ich aus der Küche einen Lappen hole?« Juliane Wengert bückt sich, kaum dass sie das Wohnzimmer wieder betreten haben, und sammelt die zerbrochenen Porzellanstücke ihrer Tasse auf. Ihre Stimme klingt vollkommen neutral. Manni beobachtet aufmerksam, wie sie eine neue Tasse auf den Glastisch stellt und mit einem weißen, steifgebügelten Leinentuch die Teepfütze wegwischt. Danach dreht sie das Handtuch zu einer unordentlichen Wurst und weiß offensichtlich nicht, was sie damit machen soll. Ist das doch ein Zeichen von Angst? Beunruhigung? Bloß kein Mitleid, denkt Manni. Alles nur Schauspielerei, und dafür kann es nur einen Grund geben, nämlich dass
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