Der Wald ist schweigen
dunkel und hat wieder zu regnen begonnen. Die Straße ist leer.
»Quatsch, die will uns verarschen.« Manni eilt durch die Flügeltür ins Eingangsportal mit der Holztreppe und dem schön gedrechselten Geländer.
»Frau Wengert?«
Keine Antwort. Es ist, als ob das Haus Mannis Ruf verschluckt, einfach absorbiert in die dunkle Gediegenheit seiner hohen Räume.
»Vielleicht will sie abhauen. Los komm!« Ohne sich umzusehen, ob Judith ihm folgt, hastet Manni an der Holztreppe vorbei in den hinteren Teil des Hauses. Aber Judith ist plötzlich sicher, dass Juliane Wengert ins Obergeschoss gerannt ist. Sie kann ihre Präsenz beinahe fühlen.
Die Holzstufen knarren unter ihren Tritten. Die Treppe führt ins Dunkel. Oben ist ein Geräusch. Atemzüge, eine Art Keuchen, wie in ihrem Traum. Etwas drückt ihr die Brust zusammen, sie schwitzt und friert zugleich. Irgendwann in allernächster Zukunft muss sie wirklich aufhören zu rauchen. Sie macht ein paar Schritte in den Flur, hält dann inne, steht einen Moment ganz ruhig, bemüht, sich zu orientieren. Sie ist sicher, dass sie etwas gehört hat. Sie hält den Atem an. Kein Laut mehr. Nur Stille. Und Angst. Eine bekannte Angst. Das Gefühl, zu spät zu kommen.
Mit der rechten Hand ertastet Judith einen hölzernen Türrahmen, rechts daneben einen Lichtschalter. Sie drückt darauf. Augenblicklich erstrahlt der Flur in gelblichem Licht. Der Flur ist leer. Wie eine Schlafwandlerin öffnet Judith die Türen. Die vorletzte führt in ein Schlafzimmer. Die eine Hälfte des Bettes ist zerwühlt, ein orientalisch-golddurchwirkter Überwurf ist auf den Boden gerutscht. In der Wand neben einem Jugendstil-Schminktisch mit geschliffenem, dreigeteiltem Spiegel ist eine weitere Tür. Ohne nachzudenken hastet Judith darauf zu, stolpert über etwas, gewinnt in allerletzter Sekunde das Gleichgewicht zurück.
Von unten hört sie ein Poltern, eilige Schritte, Manni, der ihren Namen ruft. Aber sie kann nicht auf ihren Kollegen warten, darf nicht auf ihn warten, denn das Leben ist fragil und es gibt zu viele Arten, es zu zerstören. Und jetzt, hier, in diesem Moment, hat sie ihre Chance. Wenn sie nur schnell genug ist, kann sie Juliane Wengert davor bewahren, eine Dummheit zu machen, sich etwas anzutun. Sie drückt die Porzellanklinke herunter, beinahe erstaunt, dass die Tür sich öffnen lässt.
Dunkelheit. Fieberhaft tasten Judiths Finger den Türrahmen ab. Was wird sie sehen, wenn sie den verdammten Lichtschalter gefunden hat? Blut? Juliane Wengert mit brechenden Augen, weil der Vorsprung, den sie sich errannt hat, genügte, sich den Magen mit Gift voll zu pumpen, sich die Pulsadern aufzuschneiden, sich …?
Ein Schatten bewegt sich auf dem Boden. Keucht. Ohne nachzudenken springt Judith los und greift zu. Seidige Haare unter ihren Fingern, die Schulterknochen unter der dünnen Bluse zart wie das Skelett eines Vogels.
»Was tun Sie hier? Was haben Sie genommen? Schnell, sagen Sie es mir!«
»Bitte«, Juliane Wengert japst. »Lassen Sie mich los!«
»Was haben Sie genommen?« Das Blut rauscht in Judiths Ohren. Irgendwo muss ein Lichtschalter sein. Sie richtet sich auf, reißt Juliane Wengert mit sich, so dass sie in einer grotesken Umarmung hin und her schwanken, wie zwei ungeübte Tangotänzer. »Was haben Sie genommen?« Wieder und wieder schreit Judith ihre Frage, schreit und schüttelt Juliane Wengert, die sich steif macht und etwas zu sagen versucht.
Dann, nach einem Moment, der sich wie eine kleine Ewigkeit anfühlt, wird der Raum von hellem Licht geflutet. Eine Tür fliegt auf – vom Flur aus, realisiert Judith –, Manni springt mit vorgestreckter Pistole neben eine riesige Eckbadewanne.
»Loslassen. Sofort!« Etwas in seiner Stimme veranlasst Judith, ihren Griff um Juliane Wengerts Schultern tatsächlich zu lockern.
»Sie stirbt«, schreit sie. Sie will noch mehr sagen, will sagen, dass Martini ihr helfen muss, Juliane Wengert zu retten, dass er einen Krankenwagen rufen muss, aber Juliane Wengert kommt ihr zuvor.
»Unsinn!« Sie schüttelt Judiths Griff ab und wendet sich an Manni, als wäre Judith überhaupt nicht da. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich offenbar für Verwirrung gesorgt habe. Aber mir war schlecht.« Sie nickt vielsagend zur Toilettenschüssel. »Eine leichte Magenverstimmung, die ich aus Rom mitgebracht habe. Ich hatte ganz sicher nicht vor, mir etwas anzutun, auch wenn Ihre Kollegin das zu glauben scheint.«
***
Es gibt keinen Zufall. Alles ist
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