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Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Mustermann
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Vorgestern Nacht war es der angeblich angefahrene Rehbock an der B 55. Letzte Nacht ein umgestürzter Baum, der den Fahrweg zum Erlengrund versperre. Aber da war sie schon klüger und ist gar nicht hingefahren und der nächste Morgen hat ihr Recht gegeben – weit und breit war nichts zu sehen von einem umgestürzten Baum, alles war in bester Ordnung. Wer hasst mich, wer will mir das Leben schwer machen?, überlegt sie fieberhaft. Oh ja, sie weiß nur zu gut, dass nicht jeder im Forstamt mit ihr einverstanden ist und dass auch die alteingesessenen Jäger aus den Dörfern Probleme mit ihr haben, weil sie es mit den Abschussquoten und den Genehmigungen Brennholz zu schlagen viel genauer nimmt als Alfred Hesse. Aber rechtfertigt das gleich diesen Telefonterror?
    Ronja hebt den Kopf und sieht sie an, als könne sie Dianas Sorgen spüren.
    »Wir gehen heute einfach nicht mehr an das böse Telefon, sollen die doch mit sich allein Räuber und Gendarm spielen«, verspricht Diana der Hündin. Es klingt halbherzig, aber zumindest Ronja ist das egal. Sie gähnt herzhaft und rollt sich wieder auf dem Teppich zusammen. Im selben Moment beginnt Dianas Handy zu klingeln und Ronjas Kopf ruckt erneut nach oben. Aufmerksam mustert sie ihre Herrin.
    »Guck nicht so, von Handy hab ich nichts gesagt.«
    Diana steht auf. »Rufnummer unbekannt«, sagt das Handy-Display. Vielleicht ist es ihre Freundin Sabine, die immer noch einen Analoganschluss hat. Bestimmt ist es Sabine. Sabine, Dianas Studienfreundin, die seit fünf Jahren ein Forstrevier in der Nähe von Aschaffenburg leitet.
    »Westermann, hallo?«
    Schweigen, so ein Schweigen, das eigentlich ein Lauschen ist, eine beinahe knisternde Aufmerksamkeit. Ein kalter Schauer kriecht Diana den Rücken herauf. Schutzlos kommt sie sich vor. Beobachtet. Ausgeliefert. Es ist ein beinahe körperliches Gefühl. Wer auch immer der Anrufer ist, er ist ganz nah, denkt sie und versucht in ihrem nächtlichen Garten etwas zu erkennen.
    »Hallo? Wer ist denn da?«
    Stille. Warum schafft sie es nicht, die Verbindung zu unterbrechen? Dann plötzlich schweres Atmen und eine merkwürdig körperlose Männerstimme, eine Art Zischen.
    »Verschwinde von hier, du Schlampe!«
    »Wer sind Sie, was wollen Sie von mir, verdammt noch mal?«
    Aber statt einer Antwort wird die Verbindung unterbrochen – wie all die Male zuvor. Dianas Hände zittern, als sie das Handy aufs Klavier legt. Sie fühlt, wie sich unter ihren Achseln übelriechender Angstschweiß bildet. Sie hat sich nie darum gekümmert, die Scharniere der alten Holzklappläden zu ölen. Es gibt ja keine Nachbarn, die Zufahrt zum Forsthaus ist kein öffentlicher Fahrweg – vor wem also sollte sie abends die Läden verschließen? Jetzt bereut sie diese unbekümmerte Nachlässigkeit. Ronja beginnt unruhig im Wohnzimmer auf und ab zu traben, den Kopf erhoben, die Ohren aufgestellt. Reagiert sie auf meine Angst oder hört sie tatsächlich etwas da draußen?, fragt sich Diana. Aber sicherlich würde sie dann anschlagen. Oder nicht? Das Licht des Wohnzimmers fällt auf die Wiese direkt am Haus. Dahinter liegen Garten und Wald wie eine schwarze Wand. Wenn jemand dort steht, ich könnte ihn nicht sehen.
    Auf einmal muss sie an den Toten vom Hochsitz denken. Ihrem Hochsitz. Hat er seinen Mörder kommen sehen, war es Nacht? Konnte er ihn im Dunkel erkennen, bevor der erste Schuss gefallen ist? Und der Mörder – wusste er, wen er erschoss, oder glaubte er das nur zu wissen, als er auf die Gestalt mit den schulterlangen blonden Haaren zielte. Was, wenn dieser Mord ein schrecklicher Irrtum war, wenn in Wirklichkeit sie das Opfer sein sollte?
    Er sieht mich, wer auch immer ER ist, er kann mich sehen. Panik wäscht durch Dianas Körper, eine heiße Welle, die sie in die Knie zu zwingen droht. Jetzt, hier in diesem Moment, kann jemand auf sie anlegen, ohne dass sie es auch nur bemerken würde. Sie ist ein perfektes Ziel, perfekt ausgeleuchtet, hier in ihrem Wohnzimmer. ER könnte sie erschießen.
    Sie hat das kaum beherrschbare Bedürfnis, sich auf den Boden zu werfen und zu schreien. Aber wer würde sie hören? Tu etwas, befiehlt sie sich. Der Lichtschalter ist auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnzimmers, neben der Tür zum Flur. Unendlich weit weg. Sie macht einen Schritt darauf zu, stolpert, so weich sind ihre Knie. Fängt sich wieder. Noch ein Schritt. Und noch ein Schritt. Die Beine wollen sie nicht tragen, sie gibt nach, fällt auf die Knie, krabbelt auf dem

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