Der Wald ist schweigen
vorbestimmt, miteinander verwoben, man kann sein Schicksal nicht ändern, kann es nur annehmen, sich fügen. Diana Westermann denkt an diese unerschütterliche Überzeugung der Zulu, während sie den Deckel des Klaviers in ihrem Wohnzimmer aufklappt. Wie oft hat sie versucht, Verantwortung, Eigenmacht, Ehrgeiz als Werte gegen diese afrikanische, jede Initiative schon im Ansatz lähmende Schicksalsergebenheit ins Feld zu führen. Hin und wieder sogar mit Erfolg, gerade wenn es um kleine Dinge ging. Doch am Ende hat sie immer wieder vor dem SCHICKSAL kapitulieren müssen. Sie schlägt ein paar Tasten an, dann eine schnelle Folge von Dur- und Moll-Akkorden, angenehm überrascht vom vollen Klang. Offenbar hat der alte Hesse das Klavier regelmäßig stimmen lassen. Es ist ein voluminöses schwarzes Schimmel-Piano mit gedrechselten Füßen und Kerzenhaltern aus Messing, die man hin und her schwenken kann, um die Noten optimal zu beleuchten. Wie alles im Forsthaus – Möbel, Geschirr, die Flinte – hat sie auch das Klavier vom alten Hesse übernommen. Ist es wirklich Zufall, dass er mir auch ein Klavier hinterlassen hat, fragt sie sich jetzt zum ersten Mal. Oder ist es SCHICKSAL?
Sie hat seit Jahren nicht Klavier gespielt – hat sich die Sehnsucht danach in Afrika verboten. Irgendeinen Preis muss schließlich jeder bezahlen, und ihrer war es, als Enfant terrible ihrer Familie dem Klavierspielen zu entsagen, die Rolle der Musikerin ein für alle Male freizugeben, für ihre Schwester Tamara. Ein vergleichsweise niedriger Preis für die Freiheit, mehrere tausend Kilometer entfernt von der weinerlichen Anklammerung und unerbittlichen Ichbezogenheit ihrer Mutter zu leben. Dennoch – auch hier im Schnellbachtal hat Diana sich bislang an ihr stummes Versprechen gehalten. Hat versucht, das Klavier vom alten Hesse einfach als eine Art nutzloses Möbelstück zu betrachten, mit dessen Existenz man sich arrangiert wie in einem Hotelzimmer.
Das Telefon beginnt zu klingeln, und Diana fühlt, wie ihr Herz unwillkürlich schneller schlägt. Nein, sagt sie sich, ich werde nicht drangehen, heute Abend nicht. Egal, was für ein Notfall das sein mag, ich bin nicht da – wer kann das schon überprüfen. Der Anrufbeantworter springt an und sie entspannt sich wieder. Sie rückt die lederbezogene Sitzbank so zurecht, dass sie sich bequem an das Klavier setzen kann. Kaum etwas hat ihr Amtsvorgänger in sein neues Leben in Kanada mitnehmen wollen und ihr hat es gepasst, dass sie sich um nichts kümmern musste. Bettwäsche, Handtücher und eine Teekanne hat sie neu angeschafft, ein paar afrikanische Decken über die Sofas gebreitet, ihren CD-Player aufgestellt. Die Einrichtung ist nicht schön, aber funktional. Und worauf sonst kommt es letztendlich an? Die Welt ist viel zu sehr auf Konsum ausgerichtet, die einen haben nichts, die anderen haben alles und nehmen sich das Recht, immer noch mehr zu wollen, nur um immer noch mehr wegzuschmeißen. Es besteht kein Grund, bei diesem Raubbau mitzumachen. Doch vielleicht ist es ebenso verschwenderisch, das, was das Leben – das SCHICKSAL – einem präsentiert, zu ignorieren, überlegt Diana jetzt, während ihre Finger längst für sie entschieden haben und über die Tasten gleiten, Tonfolgen und Akkorde anschlagen, die sich in der Stille des Forsthauses zu lange verdrängten, lange vermissten Melodien verbinden, aufwühlend und tröstlich zugleich.
Diana hat keine Vorstellung davon, wie viel Zeit vergangen ist, seit sie zu spielen begonnen hat, als das Telefon erneut zu klingeln beginnt. Sie hält inne, die Hände über den Tasten schwebend. Wieder springt der Anrufbeantworter an, aber wer auch immer sie zu erreichen versucht, hat offenbar kein Interesse daran, eine Nachricht zu hinterlassen. Beim Gedanken daran, erneut irgendwo hingelotst zu werden, überkommt sie das Bedürfnis zu schreien. Mit einem angeblich tollwütigen Fuchs hatte es angefangen, irgendwann im Spätsommer. Dann kam das verendende Wildschwein, das sie nicht finden konnte. Dann wieder ein Fuchs, danach ein paar Hinweise auf Wilderer, die sich ebenfalls nicht bestätigen ließen. Dann geschah eine Weile nichts, nur hin und wieder gab es einen dieser Anrufe, bei denen sich niemand meldete. Zuerst hat sie sich keine Gedanken darüber gemacht, doch in letzter Zeit haben sich diese Anrufe gehäuft. Und dann kamen auch wieder mehr Meldungen über vorgebliche Missstände in ihrem Revier. Immer nach Feierabend und immer anonym.
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