Der Wald ist schweigen
hin und her, hin und her, als könne sie sich durch diese stumme Verneinung vor den Worten schützen. Aber dazu ist es jetzt zu spät, denkt Manni böse. Die Schonzeit ist vorbei.
»Es handelt sich bei dem Todesfall, den wir untersuchen, nicht um einen Unfall«, erklärt er. »Es handelt sich um Mord.«
Ganz langsam sammelt sich in Miss Marmors Augenwinkeln das Wasser. Nein, nein, nein, sagt ihre Kopfbewegung immer noch, aber das hilft ihr nichts, sie kann den Tatsachen nicht entkommen. Trotzdem beginnt sie nicht zu weinen, sondern starrt Manni unverwandt an.
»Wir ermitteln in einem Mordfall«, sagt Manni. »Wir sind beinahe sicher, dass es sich bei dem Opfer um Ihren Ehemann handelt, auch wenn eine endgültige Identifizierung des Leichnams noch aussteht. Und dabei brauchen wir Ihre Hilfe. Können Sie uns die Telefonnummer des Zahnarztes geben, bei dem Ihr Mann in Behandlung war? Und sicher gibt es hier im Haus persönliche Dinge, die er benutzt hat – eine Haarbürste zum Beispiel –, die Sie uns zur Verfügung stellen können. Oder haben Sie doch eine Idee, wo sich Ihr Mann aufhält?«
Juliane Wengert steht auf. »Ich will ihn sehen«, sagt sie. »Ihn identifizieren, so heißt das doch bei Ihnen, nicht wahr? Damit ich sicher bin, dass es auch Andreas ist, von dem Sie sprechen.«
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.« Auch Manni steht auf. »Das Opfer ist, äh, ziemlich entstellt. Kein schöner Anblick, verstehen Sie. Sie würden Ihren Mann gar nicht erkennen.«
Langsam, ganz langsam löst sich nun doch aus Julia Wengerts rechtem Augenwinkel eine Träne. Augenblicklich hebt sie das Leinentuch, das sie immer noch in ihren schlanken Fingern knetet, und tupft die Träne weg.
»Ich will ihn sehen«, wiederholt sie störrisch.
»Bitte, seien Sie doch vernünftig.«
»Vernünftig!« Juliane Wengert stößt ein missvergnügtes Lachen aus. »Sie kommen hierher und sagen solche schrecklichen Dinge und dann wollen Sie mich daran hindern, meinen Mann zu sehen, und fordern stattdessen, dass ich vernünftig bin? Das ist wirklich stark.«
Sie läuft mit festen Schritten zum Telefon und drückt ein paar Tasten.
»Albrecht, wie gut, dass ich dich gleich dran habe«, sagt sie in den Hörer. »Bist du noch in der Kanzlei? – Das habe ich gehofft.«
Sie hebt die rechte Hand, eine herrische Geste, die Manni Einhalt gebieten soll.
»Albrecht, ich brauche deine Hilfe«, sagt sie in den Hörer. »Es ist sehr dringend. Bitte, kannst du sofort zu mir kommen? Es geht um Andreas.«
***
Er hat keine Gelegenheit gefunden, mit Laura zu sprechen, seitdem die Bullen am Nachmittag ihren Auftritt hatten. Er hat keine Ahnung, was Laura danach gemacht hat. Was ist los mit ihr? Warum versteckt sie sich vor ihm? Wie vom Erdboden verschluckt ist sie gewesen, erst bei der Abendmeditation hat er sie wiedergesehen. Und jetzt, kaum dass das letzte Om verklungen ist, ist sie ihm schon wieder entwischt. Sein Puls schlägt hart in der Ader an seiner Schläfe, als er aus dem Haus hastet. Wo ist Laura hingelaufen? Das Tal, in das der Sonnenhof gebettet liegt, ist dunkel. Nichts bewegt sich, nur der verdammte Bach rauscht und erinnert ihn daran, dass er pinkeln muss. Laura, Laura, Laura, wo bist du, wiederholt er in seinem Kopf, betet es wie ein Mantra. Blass hat sie ausgesehen, beinahe transparent. Für den Bruchteil einer Sekunde hat er sie berühren können, vor der Meditation, und ihren Hüftknochen unter der Cordjeans gespürt. Diese feine Erhebung, die ihn erregt, weil er so genau weiß, wie es sich anfühlt, wenn man die Hand fester darum legt. Er weiß, dass er Laura wild machen kann, wenn er ihre Hüftknochen umfasst. Dass sie es liebt. Aber heute hat sie sich von seiner Berührung weggeduckt wie eine kranke Katze. Nicht das winzigste Lächeln hat sie für ihn übrig gehabt. Weit von ihm entfernt und ohne ihm einen dieser Blicke zuzuwerfen, die sein Begehren normalerweise nur noch mehr steigern, hat sie sich auf ihr Kissen gehockt. Er läuft mit großen Schritten über die nasse Wiese, hält immer wieder inne und sieht sich um, ein Tier, das nach seinen Gefährten wittert. Das Fenster ihres Zimmers und die Werkstatt sind dunkel, der Schafstall ist leer. Vor Shivas Tempel bimmelt das Windspiel träge in einer Brise, als wolle es ihn verhöhnen. Wo, verdammt noch mal, ist Laura hingerannt? Warum weicht sie ihm aus? Etwas presst seine Brust zusammen, schmerzlich beinahe. Bitte, sie darf nicht verschwinden, sie nicht. Er zwingt
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