Der Wald ist schweigen
Tränen. Noch nie hat sie im Präsidium die Fassung verloren, aber nun, ungläubig, zeitverzögert, wie durch eine Watteschicht, bemerkt sie, dass sie weint. Lautlose Rinnsale, die einfach nicht versiegen wollen, die ihren Hals herunterkriechen und sich langsam, aber sicher in ihren Pullover saugen wie der Regen im Wald am Abend zuvor.
»Geh jetzt nach Hause, Mädchen.« Das Mitleid in Millstätts Stimme bringt sie dazu, sich zusammenzureißen, aufzustehen und das KK II zu verlassen, diesen Ort, von dem sie so lange geglaubt hat, dass sie dorthin gehört, ja, dass ihre Anwesenheit dort etwas Großes ist, etwas, auf das sie stolz sein kann, für das es sich lohnt, mit ihrer ganzen Energie zu kämpfen, weil es ihrem Leben einen Sinn gibt.
II. TEIL Freier Fall
15. Mai, Duisburg-Rheinhausen
» Darshan, please « , sagte die Stimme. Die Frau lag auf der Couch, halte sich mühsam auf die Ellbogen gehievt, um das Telefon zu erreichen, das auf dem Beistelltisch aus rotem Kunststoff stand. Sie wusste nicht, wie spät es war. Im ersten Moment, als das Klingeln sie weckte, wusste sie nicht einmal, wer sie war und wo sie sich befand. Sie wollte einfach nur, dass der Lärm aufhörte, und streckte die Hand nach seiner Quelle aus. Sie ließ sich zurück in die viel zu weichen Polster sinken und stöhnte. Ihr Rücken schrie und ihr Kopf war ein pulsender Schmerz. Die einzige Lichtquelle im Raum war der Schein der Straßenlaterne, aber das reichte ihr völlig, um sich zu vergewissern, dass sie zu Hause war, dass sie auf ihrem Sofa weggedämmert war, anstatt ins Bett zu gehen, dass sich wieder nichts geändert hatte.
» Darshan, please. « Erst jetzt drang die Bedeutung dieser Worte in ihr Bewusstsein. Sie fühlte, wie ihre Hand, die den Telefonhörer hielt, ganz kalt und feucht wurde, und packte unwillkürlich fester zu.
» Sie heißt Maria. « War dieses erbärmliche Krächzen, das in ihrem Kopf widerzuhallen schien, tatsächlich ihre Stimme? Versoffene alte Kuh, dachte sie und fragte sich, warum sie den Hörer nicht einfach auf die Gabel legte und weiter ihren Rausch ausschlief.
» Darshan, please. « Es war eine Männerstimme, die dies zum dritten Mal wiederholte, registrierte sie jetzt. Die Stimme klang dünn und irgendwie blechern, wie von weit her. Erst jetzt nahm sie das Rauschen wahr, die Echos anderer Gespräche, die durch den Äther trieben, Gesprächsfetzen. Flickschusterei, dachte sie. Man müsste mal eine Patchworkdecke daraus machen. Nähen. Das konnte ich einmal richtig gut. Alles war einmal richtig gut, ich weiß nicht, was geschehen ist, das Leben ist einfach nicht fair.
» Darshan not come. To India. We waiting. Where is Darshan, please. «
Indien. Ein Teil ihres Verstands registrierte erst jetzt, dass der Mann Englisch sprach, mit einem schweren, exotischen Akzent. Indien, was will meine Tochter in Indien, überlegte sie.
» You her mother « , sagte die Stimme jetzt, als könne der Sprecher ihre Gedanken lesen. Es klang anklagend, als ob sie etwas versäumt habe, als ob es eine Gefahr gäbe. Sie fühlte, wie ihr der Schweiß in kleinen Bächen aus den Achseln lief. Mit der freien Hand tastete sie neben dem Sofa herum, bis sie die Flasche Kirschlikör fand. Sie legte sich den Hörer auf die Brust, um die Flasche aufzuschrauben, und trank einen Schluck. Die Stimme kroch aus dem Hörer in ihren Pullover und verlor sich dort zu einem gedämpften Quäken. Geschieht ihm recht, dachte sie. Mich einfach so aufzuwecken. Die Flasche war viel zu schnell leer und sie ließ sie auf den Teppich rollen. Ihre Hände zitterten jetzt. Irgendwann gestern Abend hatte sie doch noch einen zweiten Wein geöffnet? Sie entdeckte die Flasche auf dem gläsernen Couchtisch und schüttelte sie. Noch halb voll. Sie trank in langen Schlucken, bis sie sich besser fühlte.
Wie viel Zeit war vergangen? Der Hörer war ihr von der Brust gerutscht und baumelte jetzt in der Luft, aber sie konnte hören, dass die fremde Stimme immer noch sprach. Was bildete dieser Mann sich eigentlich ein, sie mitten in der Nacht zu stören? Sie angelte nach dem Hörer und hielt ihn wieder an ihr Ohr.
» Hello! Hello? Darshan please! «
» Sie heißt Maria « , wiederholte sie und war erstaunt, wie fest ihre Stimme auf einmal klang. » Sie heißt Maria und sie ist nicht hier. Ich habe sie seit zwei Jahren nicht gesehen, also hören Sie auf, mich zu belästigen. «
Der Mann begann etwas zu sagen, aber sie hatte jetzt wirklich genug von ihm.
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