Der Wald ist schweigen
vertraulich behandeln«, betont Judith zum Abschied noch einmal und versucht, nicht an die Botschaft der Tarot-Karte zu denken. Es hilft nicht. Sie fühlt sich mit jeder Faser ihres Körpers so, als habe sie eine Niederlage erlitten. Noch eine Niederlage. Die Zeit, als sie auf der Siegerseite des Lebens stand, scheint unendlich lange zurückzuliegen und ihre Stimmung bessert sich nicht im Geringsten, als ihr eine Viertelstunde später auch nach mehrmaligem Klingeln niemand die Haustür des Forsthauses öffnet. Es wird schon dunkel und feiner Nieselregen hüllt sie ein wie ein feinmaschiges Netz. Nirgendwo im Forsthaus brennt Licht und der Schuppen, der als Garage dient, ist leer. Trotzdem kommt es ihr so vor, als würde irgendwo in diesem Haus jemand stehen und sie beobachten. Oder ist es nur der Wald, der sie irritiert, weil er so still ist und sich auf das Forsthaus zuzuschieben scheint?
Im schwindenden Tageslicht lenkt sie ihren Wagen den matschigen Forstweg hinunter zum Erlengrund. Jeden Quadratzentimeter der Lichtung haben sie in der vergangenen Woche mehrfach abgesucht, schwören Karin und Klaus. Verwertbare Spuren außer der leeren Patronenhülse haben sie trotzdem nicht gefunden, und eine große Hilfe ist die auch nicht. Ein absolut gängiges Fabrikat, passend für jede stinknormale Kaliber-i6-Schrotflinte. Also haben die Ks das Absperrband aufgerollt und ihre Sachen gepackt, um sich neuen Ermittlungen zu widmen. Wer weiß, was sie inzwischen in der Wengert’schen Villa entdeckt haben. Judith stellt den Motor ab und dreht sich eine Zigarette. Sie lehnt sich an die Motorhaube und raucht in tiefen Zügen, froh, dass die Bäume sie vor dem Nieselregen schützen. Der Hochsitz auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung ist nur noch schemenhaft zu erkennen. Was hat Andreas Wengert dazu veranlasst, dort hinaufzuklettern? Hat Manni Recht und er hatte sich dort mit seinem Mörder verabredet, und wenn ja, warum? Es gibt keinen Parkplatz für Wanderer in der Nähe, die Forstwege sind mit Schranken versperrt, aber mit seinem Motorrad konnte er die natürlich umfahren. Gesetzt den Fall, dass er das getan hat, hat er seine BMW vermutlich ungefähr dort abgestellt, wo Judith jetzt steht. Dann ist er über die Lichtung gelaufen und auf den Hochsitz geklettert, wo er sich – vermutlich auf Befehl seines Mörders – auszog. Wieder glaubt sie einen Moment lang die Angst Andreas Wengerts beinahe physisch zu fühlen. Die Wucht der Schüsse habe ihn vom Eingang des Hochsitzes auf die Sitzbank katapultiert, steht im Abschlussbericht. Es ist nicht sicher von wo oder wie der Täter zur Lichtung gekommen ist, relativ wahrscheinlich ist nur, dass er die BMW von Andreas Wengert nach der Tat in die Scheune gefahren hat, wo Marc Weißgerber und seine Freunde dafür sorgten, dass keine der Spuren, die der Täter möglicherweise hinterlassen hatte, erhalten blieb. Auch von den Brettern aus dem Dach des Hochsitzes und von der Kleidung des Toten fehlt jede Spur.
Judith tritt ihre Zigarette aus und holt eine Taschenlampe aus dem Kofferraum. Von der Mitte des Erlengrunds aus betrachtet, ist der Wald nur undurchdringliche Schwärze. Einen Moment lang glaubt sie, etwas Helles im Unterholz zu sehen, ein Gesicht, doch als sie den Lichtkegel ihrer Taschenlampe darauf richtet, ist dort lediglich nasses Gestrüpp. Der Hochsitz hat immer noch ein Loch im Dach. Sie klettert hinauf und fühlt, wie der Nieselregen auf ihrem Gesicht kleine, kalte Perlen bildet. Irgendetwas hat sie übersehen, irgendetwas ist hier, sie muss sich nur konzentrieren, dann kann sie es greifen. Sie zwingt sich, in der Dunkelheit auf der Holzbank zu sitzen und diesen Ort und das Geheimnis, das er birgt, auf sich wirken zu lassen, bis ihr das Haar in nassen Strähnen an der Kopfhaut klebt.
Sonntag, 2. November
»Wo ist Manni?«
Es ist Sonntagmorgen, 8.00 Uhr, die Bagger zu Füßen des Polizeipräsidiums haben ihre Schaufeln im Sand vergraben und halten ausnahmsweise still. Die Räume des KK II sind leer. Nur Millstätt sitzt hinter seinem Schreibtisch. Mit rotgeränderten Augen mustert er den rabenschwarzen Inhalt seines Kaffeebechers. Sie haben ihm den Becher nebst Kaffeemaschine zu seinem 50. Geburtstag geschenkt. »Unser Chef hat immer Recht« steht darauf.
»Manni ist schon in Bonn.« Millstätt wirft zwei Stück Würfelzucker in seinen Becher und rührt konzentriert.
»Und unsere Besprechung?«
»Mach die Tür zu und setz dich, Judith. Auch einen
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