Der Wald ist schweigen
sie am Tatort«, sagt Judith ausweichend. Heiner von Stetten betrachtet sie aufmerksam.
»Die Täterin?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich möchte diese Fotos jetzt gern Ihren Mitarbeitern und Gästen zeigen.«
Ein kleines Lächeln umspielt Heiner von Stettens Lippen. »Ganz die Königin der Schwerter. Keine Gnade. Immer geradewegs auf das Ziel zu.«
»Es wird bedeutend zeitaufwändiger für alle Beteiligten, wenn ich die Bewohner des Sonnenhofs als Zeugen aufs Polizeirevier vorladen muss.«
»In zehn Minuten enden die Nachmittagskurse und dann können Sie von mir aus fragen, wen und was Sie wollen. Aber solange müssen Sie sich noch gedulden. Also, wie ist es?« Er hebt die Tarotkarten vom Tisch, mischt sie und hält sie Judith erneut hin, immer noch lächelnd.
»Na los, trauen Sie sich. Die Wartelisten für unsere Tarotkurse sind lang – und Sie bekommen sogar eine Gratisdeutung von mir.«
Sie macht keine Anstalten, die Karten entgegenzunehmen.
»Ich hätte gedacht, dass Sie mutiger sind, Schwertkönigin.«
»Ach, geben Sie schon her.«
Sie kann sich selbst nicht erklären, warum sie ihm nachgibt.
Wenn er ihr Einlenken als eigenen Sieg verbucht, lässt er es sich zumindest nicht anmerken.
»Mischen Sie die Karten, schließen Sie die Augen, atmen Sie tief. Ein und aus, ein und aus. So ist es gut.«
Heiner von Stettens Stimme hat jetzt etwas Schmeichelndes, Eindringliches, dem sie sich nur schwer entziehen kann. So also leitet er diesen Aschram, denkt Judith. Mit der Macht des Verführers. Natürlich tut er das, schließlich ist er Psychologe. Er ist gefährlich, aber ich werde mich nicht von ihm blenden lassen, ich nicht. Mehr denn je hat sie das Gefühl, dass sie die Lösung dieses Falles hier im Schnellbachtal finden wird, wenn sie nur durchhält, wenn sie nur hartnäckig genug ist. Hinter Heiner von Stettens freundlicher Fassade spürt sie etwas anderes. Sie weiß, dass es ihm gar nicht gefallen wird, wenn sie tatsächlich beginnt, Masken herunterzureißen, vor allem, wenn sie dabei ihm und seinen Eleven zu nahe kommt.
»Jetzt breiten Sie die Karten mit der linken Hand zu einem Fächer aus. Lassen Sie sich Zeit. Gut. Und nun ziehen Sie Ihre Karte. Wählen Sie mit geschlossenen Augen. Vertrauen Sie. Nehmen Sie die Karte, zu der Ihre Hand Sie führt.«
Wie albern, alle Karten fühlen sich gleich an, denkt Judith, während sie eine der Karten hochhebt.
»Sehr gut. Woran haben Sie gedacht?«
»An meine Ermittlungen.«
»An Ihre Ermittlungen. Natürlich.« Sie hört Belustigung in seiner Stimme und öffnet die Augen. Sein Gesichtsausdruck ist vollkommen neutral. »Und, was für eine Antwort gibt Ihnen das Tarot?«
Sie dreht die Karte um und beißt sich auf die Unterlippe. Gedämpftes Violett und trübes Grün, fünf dunkle, verbogene Schwerter.
»Niederlage.« Sie wirft die Karte auf den Tisch und steht auf. »Genug gespielt. Ich denke, die zehn Minuten sind um.«
»Interessieren Sie sich denn nicht für die Deutung?«
»Niederlage. Das ist doch wohl eindeutig genug.« Sie geht zur Tür. Mit einer erstaunlich behänden Bewegung erhebt sich Heiner von Steffen und holt sie ein.
»Oh nein, so eindeutig ist das nicht. Alles hat zwei Seiten.
Die Niederlage besteht vor allem aus der Furcht vor der Niederlage. Und zwar in einer wichtigen Beziehung, in einer Herzensangelegenheit. Die Venus steht bei dieser Karte im Wassermann, das heißt, das Herz ist durcheinander und verängstigt, es …«
»Danke, Herr von Stetten, das reicht mir für heute. Jetzt möchte ich wirklich meine Arbeit machen.«
Doch diese Arbeit gestaltet sich einmal mehr als mühsames Auf-der-Stelle-Treten. Auch die Fotos helfen nicht. Es ist nicht anders als in Unterbach. Niemand im Aschram will Andreas Wengert oder seine Ehefrau gekannt oder gesehen haben. Nach einem, wie sie hofft, überzeugenden Plädoyer für die Unterstützung polizeilicher Ermittlungstätigkeit bleibt Judith nichts anderes übrig, als die Versammlung im Yoga-Raum zu beenden, die Fotos der Wengerts und ihre Visitenkarte an eine Korkpinnwand im Speisesaal zu heften und darauf zu vertrauen, dass irgendein Zeuge sich bei ihr melden wird. Vielleicht möchte ihr ja jemand sein Wissen lieber unter vier Augen mitteilen. Außerdem fehlen einige der Aschram-Bewohner. Der rothaarige Kermit zum Beispiel. Und auch dieses Mädchen mit den braunen Rastalocken, das er bei ihrem letzten Besuch so argwöhnisch bewacht hat.
»Ich werde natürlich jeden Hinweis absolut
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