Der Wald ist schweigen
Verschläge, hat einer der Besucher gesagt, den die Presseabteilungsfuzzis beim Tag der offenen Tür durchs Haus geführt haben, und ist mit dieser Beschreibung der Wahrheit ziemlich nahe gekommen. Nichts ist zu spüren von der luftigen Transparenz, die die glasüberdachte Eingangshalle verspricht und die seine Mutter auch hier in den oberen Stockwerken vermutet. Stattdessen teilen sich immer zwei Kollegen ein Büro, das so schmal geschnitten ist, dass die Schreibtische einander direkt gegenüber stehen müssen. Und weil jeder Kollege bemüht ist, sich ein kleines bisschen Individualität an den Arbeitsplatz zu holen, gibt es einen unausgesprochenen Wettkampf darin, wer die Wand in seiner Bürohälfte am besten zupflastern kann.
Manni drückt die Wahlwiederholung und starrt geistesabwesend auf die Collage hinter dem Schreibtisch seines Kollegen Holger Kühn, der vermutlich wieder in Sachen Jennifer-Mord unterwegs ist. Es gibt dort, in zahlreichen Varianten, nur zwei Motive, die Holger Kühns Hobbys repräsentieren: Surfen in Holland und die Boxerzucht, die er mit seiner Lebensgefährtin betreibt. An seinem ersten Arbeitstag hat Manni vorgeschlagen, dass es doch besser wäre, wenn er die Wand hinter Holger und Holger die hinter Manni dekorieren würde, weil dann Holger seine Hunde und er, Manni, seine Vereinswimpel und Fußballpokale anschauen könne, ohne den Kopf dazu um 180 Grad zu drehen. Aber Holger hat nichts davon wissen wollen und inzwischen hat sich Manni an die traurig-triefäugigen, plattnasigen Hundegesichter gewöhnt, die ihn während all seiner Ermittlungen beobachten.
Endlich erwischt er bei Staco-Steff ein Freizeichen, aber nun hält der es offenbar nicht für nötig, ans Telefon zu gehen. Resigniert schaut Manni auf seine Armbanduhr. Mittagspause. Er weiß aus Erfahrung, dass Safranzki es damit sehr genau nimmt. Immerhin gibt es ein hausinternes Computer-Mail-System, also tippt Manni das Aktenzeichen der »Soko Erlengrund« und die Frage »Hast du schon die Mailbox der PCs von Andreas und Juliane Wengert geknackt?« in ein Formular und schickt es los, in der Hoffnung, dass Safranzki seinen Antrag bald lesen und beantworten wird. Und was nun? Der Grübelei darüber wird Manni vorerst enthoben, denn Ralf, der Anfänger, steckt seine Nase zur Tür herein und will wissen, was er als Nächstes tun soll.
»Hast du die Listen fertig?«
Statt zu antworten schiebt Ralf auch den Rest seines mageren Körpers in Mannis Büro und drückt ihm eine Pappmappe in die Hand. Manni blättert. Zwei ordentliche Computerausdrucke tragen die Überschrift »Lehrerkollegium Schiller-Gymnasium Bonn«, drei weitere Seiten listen akribisch auf, wann Andreas Wengert welche Schulklasse der Stufen neun bis 13 in Sport und Englisch unterrichtet hat. Flüchtig überlegt Manni, ob er auch die achten Klassen nach der geheimnisvollen Geliebten des Andreas Wengert durchkämmen müsste, schließlich sind die Girlies heute frühreif. Andererseits haben sie mit einer Befragung des 43-köpfigen Lehrerkollegiums und der etwa 250 in Frage kommenden Schülerinnen vorerst genug zu tun – zumal es nicht einmal sicher ist, dass Andreas Wengerts Gespielin überhaupt vom Schiller-Gymnasium stammt. Die Direktorin jedenfalls will nichts von einem Skandal um ihren jungen, dynamischen, hochgeschätzten und allseits beliebten Sportlehrer wissen. Am Gartenzaun der Wengert’schen Villa künden bergeweise schlappe Blumen, aufgeweichte Kuscheltiere, Gedichte und Fotos davon, dass die Direktorin mit ihrer Einschätzung Recht haben könnte. Die Frage ist, was genau »beliebt« im Einzelfall bedeutet.
Manni faltet die Listen auf Hosentaschenformat und steckt sie in die Gesäßtasche seiner Jeans. Es wird auf Fleißarbeit hinauslaufen, wieder einmal, und er will lieber gar nicht daran denken, dass es ja auch noch jede Menge ehemalige Schülerinnen und andere junge Frauen gibt, die als Geliebte in Frage kommen. Zwei der Wengert’schen Nachbarn hat er noch nicht erwischt und an der Schule haben sie noch nicht einmal richtig angefangen, ihre Fragen zu stellen. Aber Geduld und Sorgfalt haben ihm in diesem Fall bislang schon mehrfach Erfolg beschert und Judith Krieger mit ihren ewigen Querschüssen und dem penetranten Beharren darauf, dass sie die Lösung im Schnellbachtal suchen müssen, ist kaltgestellt. Nach nur einem Jahr im KK II ist Manni quasi, wenn auch inoffiziell, zum Soko-Leiter aufgestiegen. Millstätt vertraut ihm und wird das ganz sicher in die
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