Der Wald ist schweigen
Bei Wolfgangs 65., nicht wahr?«
»Vor drei Jahren, ja. – Du hast hier ja gar keine Couch.«
»Für meine Zwecke genügen Sessel. Ich bin Psychotherapeutin, nicht Psychoanalytikerin.«
»Ist das nicht dasselbe?«
»Oh nein, bei weitem nicht. Als Psychotherapeutin geht es mir vor allem ums Jetzt und wie man es verändern kann, die Kollegen Analytiker konzentrieren sich hingegen mehr auf die Durchleuchtung der Vergangenheit.« Dr. Margret Zinn setzt sich auf einen der gelben Ledersessel in ihrem Behandlungszimmer und lädt Judith mit einer Handbewegung ein, es ihr gleichzutun. Sie sieht gut aus in ihrem blauen Hosenanzug, energisch und ziemlich jung, obwohl sie inzwischen 60 sein muss.
»Aber sicher bist du nicht gekommen, um mit mir über die verschiedenen Glaubensrichtungen meiner Zunft zu philosophieren? Du hast am Telefon gesagt, es sei dringend. Also, was führt dich zu mir?«
»Ich brauche ein Attest.«
Judith beeilt sich weiterzusprechen, bevor Margret Zinn sie unterbrechen kann.
»Also nicht direkt ein Attest. Eher eine Bestätigung. Eine Bestätigung, dass ich bei dir in therapeutischer Behandlung bin. Nur eine Bestätigung, verstehst du. Ich will nicht wirklich deine Zeit in Anspruch nehmen.«
»Aha. Und wofür brauchst du diese ›Bestätigung‹?«
»Mein Chef will die haben.«
»Dein Chef. Warum?«
»Er glaubt … es ist …« Was soll sie sagen? All die schönen Formulierungen, die sie sich in den letzten Tagen für diesen Moment zurechtgelegt hat, scheinen nicht zu passen.
»Ich brauche ein paar Wochen Pause.«
»Und warum kommst du ausgerechnet zu mir?«
»Du bist die einzige Psychologin, die ich kenne. Wir sind Verwandte. Du kannst doch ein Attest ausstellen, oder?«
»Sicher. Aber erst einmal möchte ich verstehen, warum ich das tun soll.«
»Mein Chef … Der Polizeiarzt glaubt, dass ich Hilfe brauche, psychologische Hilfe. Aber so ist es nicht.«
Ein unverwandter himmelblauer Blick.
»Wirklich nicht. Es ist nur – ich brauche eine Pause.«
»Also soll ich dir helfen zu lügen?«
»Du sollst mir helfen.«
»Ich soll vortäuschen, dass du meine Patientin bist. Das ist nicht gerade ehrlich und entspricht auch nicht meinem Berufskodex.«
Judith springt auf. »Herrgott, du bist meine Tante – oder hast du das vergessen?«
Es ist so still, dass das leise Ticken der alten Tischuhr auf Margret Zinns Schreibtisch überdeutlich zu hören ist. Margret Zinn seufzt.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich dir nicht helfen werde. Ich habe nur präzisiert, was du von mir willst. – Setz dich bitte wieder.« Sehr leise sagt die Psychologin diesen letzten Satz. Zögernd lässt sich Judith wieder auf die Sesselkante sinken.
»Ich muss verstehen, um was es geht, wenn ich dir ein Attest ausstellen soll, Judith.«
Judith nickt. »Okay.«
»Also, was ist los?«
Der Tod eines Kollegen, die nie enden wollende Belastung, zu viele Überstunden, ein paar Flüchtigkeitsfehler, ein wohlmeinender Chef, der Judith unterstützen will. Ein überfürsorglicher Polizeiarzt. Und die Lösung: Ein Attest zur Beruhigung der Gemüter, ein Attest, das Judith einfach ein paar Wochen Zeit gibt durchzuatmen – je länger Judith redet, desto plausibler klingt es. Als sie ihren Monolog beendet hat, hat sie das erste Mal seit Tagen das Gefühl, dass sie noch eine Chance hat, ja dass sie diese Chance verdient hat.
»Er stand dir nahe, dieser Kollege?«
»Er war ein Freund.«
»Oh, wie traurig, Judith.«
»Ja.«
»Als Mädchen hast du dir so sehr einen Freund gewünscht, aber aus irgendeinem Grund warst du immer ziemlich allein, nicht wahr? Deine Brüder lebten ja in ihrer eigenen Welt. Und dann die Umzüge.«
»Das ist lange her.«
»Ja, natürlich.« Immer noch dieser unverwandte Blick. Judith presst die Lippen zusammen. Auf einmal wird ihr bewusst, dass ihr Atem vermutlich nach Ouzo riecht.
»Also gut, Judith. Ich schreibe dir deine Bestätigung. Ein Attest für die nächsten zwei Wochen.«
»Das hilft mir wirklich sehr.«
»Aber falls dein Chef möchte, dass du darüber hinaus noch eine Psychotherapie machst, kann ich das nicht vortäuschen. Du müsstest dann tatsächlich entsprechende Termine wahrnehmen.«
»Danke, Margret.« Judith bringt ein Lächeln zustande. Zwei Wochen sind eine lange Zeit. Fürs Erste ist sie gerettet.
***
Wo soll sie hin? Was soll sie tun? Laura weiß es nicht. Wieder einmal ist ihre Welt zusammengestürzt, wie betäubt geht sie ihren Aufgaben nach. Hockt bei den
Weitere Kostenlose Bücher