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Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Mustermann
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Aber ihr elektronisches Postfach ist leer. Also hat Ariane Solowski, die Forstamtssekretärin, den Inspektionsbericht immer noch nicht getippt. Dabei liegt das Band, das Diana besprochen hat, jetzt seit zwei Wochen auf ihrem Schreibtisch. Die männlichen Kollegen bedient Ariane Solowski weitaus schneller.
    Das Telefon klingelt genau in dem Moment, als Diana den Computer ausgeschaltet und das Licht in ihrem Büro gelöscht hat. Mit der Hand auf dem Hörer steht sie und wartet darauf, dass ihr Anrufbeantworter anspringt. »Hier ist die Revierförsterei Schnellbachtal, Diana Westermann …« Munter und kompetent klingt das. Aber der Anrufer ist offenbar anderer Meinung. Noch bevor die Ansage endet, legt er auf.
     
    ***
    Die Gesichter der Menschen sind stumpf. Arbeitsgesichter, denkt Judith. Verwischte Wimperntusche, zerknitterte Hemden. Ein Hauch von Aftershave hängt in der stickigen Luft des Zugabteils, blasse Erinnerung an einen Morgen, der vielleicht so etwas wie Hoffnung barg. Ein Teenager mit kurzrasiertem Schädel drängelt sich zu einem Fensterplatz durch. Kaum wird der Sitz ihm gegenüber frei, stemmt er seine Turnschuhe auf die Polster. Aus seinem Walkman wummern Bässe. Die junge Frau neben ihm streift ihn mit einem scheuen Blick, starrt dann sofort wieder in das Taschenbuch, das auf ihrem Schoß liegt. Um ihren Mund haben sich Linien gegraben.
    »Kein Benehmen«, sagt eine andere Frau und nickt zu dem Kurzrasierten herüber. Sagt es leise und zu niemand Bestimmtem und trotzdem liest Judith Zustimmung in den Gesichtern der anderen Pendler, doch niemand sagt etwas. Und auch sie selbst presst die Stirn ans Fenster und schweigt. Felder gleiten vorbei. In den Fenstern von Gewächshäusern gleißt fahlgelbes Nachmittagslicht. An guten Tagen sieht Judith in ihren Mitmenschen vor allem das Bemühen. Gerade Frauen rühren sie an solchen Tagen an, ihre hartnäckigen Versuche, dem Leben mit Hilfe von Nagellack, Lippenstift oder einem bunten Seidenhalstuch wenigstens ein bisschen Farbe einzuhauchen.
    Aber heute ist kein guter Tag, und wenn sie ehrlich ist, hat sie schon lange keinen guten Tag mehr gehabt. Und feige ist sie außerdem, kein bisschen besser als die anderen im Zug. Wir lassen uns von einem Teenager tyrannisieren, denkt sie. Wir nennen das Toleranz, aber in Wirklichkeit ist es Haltungslosigkeit. Steh jetzt auf und sag dem Jungen, dass er seine Schuhe runternehmen und die Musik leiser drehen soll, befiehlt sie sich. Na los. Aber ihr Körper gehorcht ihr nicht und in ihrer Hosentasche, dort, wo sie normalerweise ihren Dienstausweis trägt, brennt ein Loch. Millstätt hat ihr ihre Identität geraubt. Oder die Autorität. Vielleicht auch beides.
    Bleierne Tage liegen hinter ihr, vergangen, ohne dass sie einen klaren Gedanken gefasst hätte, seit Millstätt sie beurlaubt hat. Wie tief kann man sinken, fragt sie sich jetzt zum wiederholten Mal. Vorhin hat sie mit Helena, die den Kiosk gegenüber von Judiths Wohnung betreibt, Ouzo getrunken. Mitten am Nachmittag, und dabei wollte sie eigentlich nur Tabak kaufen. Und dann waren plötzlich zwei Stunden um, und sie war angetrunken und es war allerhöchste Zeit, nach Bonn zu fahren. Zu Dr. Margret Zinn, der Schwester ihres Vaters. Margret Zinn – sag doch Margret, Judith – ist Psychologin. Keine Person, die Judith unter normalen Umständen besuchen würde. Aber morgen ist Freitag und Millstätts Ultimatum läuft aus, sie muss etwas tun. Der Zug hält und neue, müde Gesichter werden in den Gang geschoben. Judith sehnt sich nach ihrem alten, klapprigen Passat. Doch Helenas Ouzo brennt in ihrem leeren Magen und so viel Selbsterhaltungstrieb hat sie immerhin noch, dass sie nicht auch noch einen Führerscheinentzug provoziert.
     
    Dr. Margret Zinn ist definitiv ein Profi. Lächelnd kommt sie ihr vom Empfang ihrer Praxis aus entgegen, und einen Moment lang sieht es sogar so aus, als wolle sie sie umarmen. Unwillkürlich hält Judith den Atem an. Aber schon ist der Moment möglicher Intimität verflogen und allenfalls ein leichtes Zucken ihrer Lider verrät, dass die Psychologin Judiths Abwehr registriert hat. Doch was auch immer sie daraus schließt, sie lässt es sich nicht anmerken. Immer noch lächelnd ergreift sie Judiths Hand. Ihr Händedruck ist sanft und flüchtig, der Flügelschlag eines Schmetterlings. Als wäre ich ein wildes Tier, denkt Judith, ein wildes Tier, das man beruhigen muss, zähmen.
    »Judith, wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen?

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