Der Wald ist schweigen
zueinander.«
»Danke, dass ich hier sein darf.«
»Vedanja ist unser pädagogischer Leiter, bei ihm bist du in guten Händen, du kannst dich mit allen Fragen an ihn wenden.«
»Können wir einen Termin für eine therapeutische Sitzung vereinbaren?« Judith hofft, dass sich ihr Unwille angesichts dieser Vorstellung nicht in ihrem Gesicht spiegelt. Ihre Sehnsucht nach einer Zigarette wird mit jeder Sekunde dringlicher. Sie fühlt, wie sie zu schwitzen beginnt. Aber wenn sie Heiner von Stetten zu fassen bekommen will, muss sie ihn in dem Glauben lassen, sie brauche wirklich seine Hilfe.
Der Psychologe lächelt, offenbar bemerkt er ihren Gefühlszustand nicht. Wahrscheinlich schmeichelt ihre Bitte um eine Einzelstunde seinem Ego.
»Die Schwertkönigin. Immer geradewegs aufs Ziel zu.« Er geht zu seinem Schreibtisch und blättert in einem Tischkalender. »Also gut, heute Abend um acht.«
Im selben Moment schwingt die Tür geräuschlos auf und der rothaarige Kermit blickt auf Judith herab. Beate von Stetten hat vermutlich nicht gerade Werbung für sie gemacht, denn seine wasserblauen Augen taxieren sie wie ein lästiges Insekt. Sie steht auf und lächelt ihn an, mechanisch streckt er die Hand aus. Sie ist schlapp und feucht, doch Judith schafft es, immer weiter zu lächeln.
»Hallo, Vedanja, Heiner sagt, dass du mich rumführst? Das ist nett.«
***
Die Nachbarin der Wengerts sieht aus, als sei sie permanent erstaunt, was überhaupt nicht zu der nörglerisch-rechthaberischen Art passt, mit der sie die Worte zwischen ihren weißen Pferdezähnen hervorpresst. Aus dem Vernehmungsprotokoll der letzten Woche weiß Manni, dass sie 56 Jahre alt ist, aber genauso gut könnte sie zehn Jahre älter oder jünger sein – ihr Teint ist unter einer dicken Schicht Make-up begraben. »Nein, ich irre mich ganz sicher nicht«, sagt sie bestimmt. »Ich habe ein gutes Gedächtnis für Personen. Das ist nicht das Mädchen, das ich gesehen habe.«
»Aber Sie haben gesagt, ein Mädchen mit dunklen langen Haaren.« Manni ist noch nicht bereit, sich geschlagen zu geben. Wie oft hat er schon erlebt, dass Zeugen sich irren. Aber die Nachbarin der Wengerts scheint sich ihrer Sache ganz sicher zu sein. Beinahe anklagend deutet sie mit ihrem goldberingten, blutrot lackierten Zeigefinger auf das Foto von Tanja Palm, das der Anfänger ihr geduldig vor die Nase hält.
»Aber doch nicht so dunkel. Und die Augen waren hell – nein, das ist sie bestimmt nicht.«
»Also hellbraune Haare, helle Augen – können Sie uns noch mehr über das Mädchen sagen, das Sie mit Andreas Wengert gesehen haben?«
»Das ist ja schon ein paar Monate her, seit sie das letzte Mal hier war. Das Haar trug sie lang und offen, sie ging ihm ungefähr bis zur Schulter. Jung sah sie aus. Und irgendwie nicht so brav wie diese hier.« Der rote Fingernagel schnippt an das Glas. »Wenn Sie mich fragen, sie hatte was Aufreizendes, Ordinäres an sich, und das hat zu ihm gepasst. Eine Schande ist es, dass Juliane diesen Kerl geheiratet hat. Niveaulos. Einen Sportlehrer, der sich an Schülerinnen vergreift. Alle hier in der Straße haben sich von Anfang an gefragt, was sie an ihm findet.«
»Die Liebe geht manchmal sonderbare Wege.« Zu seinem eigenen Erstaunen verspürt Manni das Bedürfnis, seine Hauptverdächtige in Schutz zu nehmen. Vielleicht, weil er Miss Marmor nicht zutraut, dass sie ihren Zusammenbruch vom Morgen gespielt hat. Egal, ob sie ihren Mann nun umgebracht hat oder nicht – erst jetzt scheint sie die Tragweite der Ereignisse wirklich begriffen zu haben. Nun liegt sie im Krankenhaus und ist bis auf weiteres nicht mehr vernehmungsfähig. Und seine letzte Hoffnung, die Ermittlungen schnell abzuschließen, hat diese goldbehängte Lady hier soeben gründlich zerschlagen. Alles deutet darauf hin, dass Tanja Palm nicht die einzige jugendliche Gespielin war, die sich Andreas Wengert geleistet hat. Es sieht so aus, als müssten sie ihre ermüdende Suche fortsetzen »Wann haben Sie dieses Mädchen eigentlich zuletzt hier gesehen?«
Die Nachbarin runzelt die Stirn, wodurch sich das Dauerstaunen in ihrem Gesicht noch verstärkt. Diese Frau ist so stark geliftet, dass ihre Augen unnatürlich weit aufgerissen sind, realisiert Manni verspätet. Was will man in einer Gegend wie dieser auch sonst erwarten? Heute Nachmittag geht sie wahrscheinlich Golfspielen mit einem Privatlehrer und betrinkt sich anschließend mit Cocktails oder hat einen Termin zum Fettabsaugen,
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