Der Wald ist schweigen
Jedenfalls lässt er sich nicht stören, als sie durch die offene Tür in sein Zimmer treten, ungerührt tippt er mit seinen kräftigen Wurstfingern Zahlenkolonnen in eine Rechenmaschine. Er trägt ein weißes tunikaartiges Gewand. Auf seiner Nasenspitze balanciert eine Nickelbrille, die vermutlich an Gandhi erinnern soll. Die Terrassentür steht offen, ein kalter Lufthauch verweht den Duft des Räucherwerks, das auf dem Altar vor dem Buddha vor sich hin glimmt. Die Sauerstoffpumpe des Aquariums brummt leise, davon abgesehen ist das Klackern der Rechnertastatur das einzige Geräusch. Endlich scheint Heiner von Stetten mit dem Ergebnis seiner Rechnerei zufrieden zu sein. Er wirft die Brille auf den Schreibtisch, stößt sich von der Tischkante ab, rollt mit dem Stuhl ein Stück rückwärts und breitet die Arme aus.
»Die Schwertkönigin! Ich war sicher, dass Sie wieder kommen.« Er nickt Kermit zu, der angesichts dieser Begrüßung erstaunt die wasserblauen Glubschaugen aufreißt. »Danke, Vedanja. Wenn du bitte dafür sorgst, dass wir nicht gestört werden.«
Leise schnappt die Tür ins Schloss. »Setzen Sie sich.« Heiner von Stetten steuert leichtfüßig auf die Sitzkissen zu und lässt sich auf seinem Stammplatz nieder, mit dem Rücken zur Wand. Judith bleibt nichts anderes übrig, als sich ihm gegenüberzusetzen. Ohne Lehne, fast augenblicklich beginnen ihre Schultern zu schmerzen. Heiner von Stetten sieht sie unverwandt an. Wieder hat sie das unbehagliche Gefühl, dass er mehr von ihr sieht, als sie zeigen will.
»Also, Judith, was kann ich für Sie tun?«
»Die Niederlage.« Judith räuspert sich. »Ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Sie haben gesagt, ich bräuchte dringend Hilfe. Vielleicht haben Sie Recht.«
Statt ihr zu antworten bedient sich ihr Gegenüber einer ihrer eigenen Lieblingstechniken: Er wartet. Judith schiebt das Attest, das ihre Tante für sie geschrieben hat, über den niedrigen Marokkotisch.
»Ich bin krankgeschrieben. Ich bin heute nicht als Kommissarin, sondern als Privatperson hier. Ich würde gern für eine Weile hier im Sonnenhof bleiben, um mich zu erholen.«
Heiner von Stetten nimmt das Attest. »Depression«, murmelt er. »Die dunkle Aura.« Es klingt, als spräche er zu sich selbst.
»Ich habe vor einiger Zeit meinen besten Freund verloren.«
Er sieht sie an. »Niederlage. Die Spitzen der fünf Schwerter treffen sich in der Mitte und blockieren einander, die Klingen sind verbogen, unbrauchbar. Alles ist dunkel. Wie ich schon sagte, besteht die Niederlage aus der Furcht vor der Niederlage. In diesem Falle, weil die Venus im Spiel ist, geht es vor allem um die Furcht, eine neue Beziehung einzugehen, sich einzulassen, wie es so schön heißt. Sind Sie sicher, Judith, dass sie für Ihren verstorbenen Freund nur freundschaftliche Gefühle empfunden haben?«
»Er wurde im Dienst erschossen, als er mich vertreten hat.«
»Das beantwortet meine Frage nicht.«
»Ich habe ihn geliebt. Wie einen Bruder. Nein, mehr. Anders. Aber nicht wie einen Liebhaber.« Warum ist sie so ehrlich? Ihre Worte scheinen von den Wänden widerzuhallen, dröhnen in ihren Ohren.
»Schuld«, sagt Heiner von Stetten, gerade in dem Moment, als Judith sicher ist, den Nachhall ihrer eigenen Worte nicht mehr aushalten zu können. »Und Unschuld. Damit sind wir wieder bei der Königin der Schwerter. Sie reißt die Masken herunter, um zurück zur kindlichen Unschuld zu gelangen. Sie ist gnadenlos gerecht und gnadenlos objektiv. Wussten Sie, dass Ihr Freund erschossen werden würde, als er Sie vertrat? Wollten Sie das?«
»Natürlich nicht.«
»Also trifft Sie keine Schuld.«
Judith will widersprechen, aber der Sonnenhofleiter kommt ihr zuvor.
»Aber das ist schwer auszuhalten, nicht wahr? Noch schwerer, als sein Tod. Weil es deutlich macht, dass Sie keine Kontrolle haben. Über das, was geschehen ist. Über das, was noch geschehen wird.«
»So einfach ist das nicht.«
»Vielleicht doch.«
Alles in ihr schreit nach Flucht. Wie kann es passieren, dass dieser windige Psychologe mit seiner Begeisterung für Tarotkarten sie so schnell aus der Fassung bringt? Sie darf das nicht geschehen lassen, sie muss sich beherrschen, konzentrieren, wenn sie etwas erreichen will.
Seine Stimme klingt sanft, beinahe gütig, als er wieder zu sprechen beginnt.
»Wie alt sind Sie, Judith?«
»38.«
Er nickt. »Viel zu jung, um aufzugeben. In der Meditation üben wir, das Leben hinzunehmen – auch wenn wir es nicht
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