Der Wald ist schweigen
verstehen können. Glauben Sie, Sie können sich darauf einlassen?«
»Ich würde es probieren.«
Heiner von Stetten scheint ihre Worte sorgfältig abzuwägen, wie ein Orakel in Buddhagestalt thront er auf dem orangefarbenen Kissen und sieht sie an, ohne eine Miene zu verziehen.
Dann, plötzlich, scheint er zu einem Entschluss zu kommen. Er springt auf. »Warten Sie, ich hole meine Frau.«
Beate von Steffen sieht an diesem Morgen noch ungesünder aus, als Judith sie in Erinnerung hat. Um ihren schmallippigen Mund haben sich tiefe Furchen gegraben, Schatten liegen unter ihren kleinen Knopfaugen, die Judith misstrauisch mustern, der Haaransatz entlang ihres Scheitels sticht weiß aus dem tomatenfarbenen Hennarot hervor. Mit einer blassen Hand zieht sie ein flusiges, vermutlich handgestricktes Umhängetuch aus violetter Wolle enger um ihren mageren Leib, bevor sie zu sprechen beginnt.
»In den letzten Tagen gab es für uns und unsere Gäste einige Unruhe durch Ihre Verdächtigungen und Befragungen. Jetzt wollen Sie hier plötzlich einziehen, um zu meditieren. Wer sagt uns, dass Sie in Wirklichkeit nicht herumschnüffeln wollen?«
Kluges Mädchen. Offenbar funktioniert die Rollenverteilung der von Stettens so, dass sie die Böse gibt. Judith zwingt sich, Beate von Stettens Blick standzuhalten, und deutet auf das Attest. »Ich bin raus aus dem Fall. Davon abgesehen sind meine Kollegen in dieser Minute dabei, die Ermittlungen abzuschließen. Es gab bereits eine Verhaftung.«
»Ah ja?«
»Ich kann und darf im Moment nicht mehr dazu sagen. Jedenfalls gehen meine Kollegen nicht mehr von einem Zusammenhang mit dem Sonnenhof aus.« Das ist nicht einmal gelogen.
»Tatsächlich? Erst vor einer halben Stunde hat ein Kollege von Ihnen angerufen und sich nach einer unserer früheren Mitbewohnerinnen erkundigt.«
»Es ging doch sicher nur um eine Routinefrage.« Judith fühlt, wie sie rot wird.
»Das hoffe ich. Ich habe Ihrem Kollegen jedenfalls erklärt, dass sich die fragliche Person seit Mai in Indien aufhält.« Beate von Stetten streift ihren Mann mit einem feindseligen Blick.
»Und, war er mit dieser Auskunft zufrieden?«
»Wie gesagt, ich hoffe es. Ich habe ihm die Adressen mehrerer Aschrams gefaxt. Sie hat er übrigens mit keinem Wort erwähnt.«
»Er weiß nicht, dass ich hier bin, niemand weiß das, und ich wäre sehr froh, wenn das auch so bliebe. Ich möchte meine Privatsphäre schützen. Es wird so viel getratscht im Präsidium.«
»Warum suchen Sie dann gerade bei uns Hilfe?«
»Na ja, die Ermittlungen sind doch abgeschlossen. Und der Sonnenhof ist … Ich kann das schlecht erklären. Dieses Tal hier, dieser Hof – er scheint so entlegen. Er hat eine Atmosphäre, die mich anspricht – eine bestimmte Aura.« Judith sucht einen Moment lang Heiner von Stettens Blick. »Es ist mehr so ein Gefühl, eine Intuition, dass ich hier das finden könnte, was ich suche, eine Antwort auf meine Fragen.« Wieder nicht gelogen.
Beate von Stetten verzieht ihre Lippen zu einem freudlosen Lächeln. »Mein Mann kann schlecht nein sagen.« Erneut bedenkt sie ihren Partner mit einem bitterbösen Blick. »Er neigt dazu, es auf einen Versuch ankommen zu lassen und Sie aufzunehmen.«
»Das wäre wirklich schön.«
Beate von Stettens Stimme klingt seltsam monoton, als sie zu sprechen beginnt. »Also gut. 65 Euro pro Tag für Übernachtung und Verpflegung. Sie bekommen ein Einzelzimmer in einem der Nebengebäude, wo unsere Dauergäste wohnen. Das Bad ist über den Flur. Der Sonnenhof ist ein Aschram, das heißt, Sie müssen sich an unsere Regeln halten: kein Alkohol, kein Nikotin, kein Fleisch, kein Zucker. Kein Handy. Die Teilnahme an den Meditationen ist verbindlich, zwischen 23 Uhr und 6 Uhr schweigen wir. Falls Sie therapeutische Sitzungen bei meinem Mann oder Reikibehandlungen bei mir wünschen, kostet das extra. Die Yogastunden sind gratis.«
»In Ordnung.« Nicht rauchen – um Himmels willen. Augenblicklich fühlt Judith, wie ihr Herzschlag sich beschleunigt, jede ihrer Zellen schreit nach Nikotin.
»Ich hole Vedanja, er wird …« – Beate von Stetten zögert einen Moment – »… dir alles zeigen.«
Sobald seine Frau den Raum verlassen hat, macht Heiner von Stetten eine winzige katzengeschmeidige Bewegung mit den Schultern, so als wolle er die schlechte Stimmung abstreifen. Tatsächlich entspannt sich die Atmosphäre merklich.
»Also, herzlich willkommen, Judith. Hier im Aschram sagen wir du
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