Der Wald ist schweigen
sie wissen, was zu tun ist, morgen wird sie ihr Haus gründlich nach den Spuren eines Einbrechers untersuchen – und nach Alfred Hesses Flinte. Vielleicht schlafwandelt sie ja neuerdings. Vielleicht hat sie sie einfach verlegt. Aber jetzt muss sie raus, nach Köln, zu Tom. Sie sehnt sich wirklich unbeschreiblich nach einem Caipirinha.
***
Judiths Lungen fühlen sich zu groß an, unnatürlich groß, und das nicht, weil sie außer Atem ist. Neun Stunden ohne Zigarette. Sie versucht, sich auf das zu konzentrieren, was Heiner von Stetten sagt, eine monotone Litanei fremder, kehliger Silben. Sanskrit. Sie könnte die Übersetzung in dem violetten Büchlein nachlesen, das Kermit ihr am Morgen mit säuerlicher Miene überreicht hat, als er ihr ihr Zimmer zeigte. Sie bringt die Energie nicht auf. Stunde um Stunde müssen sie im Aschram auf Miniatursitzkissen auf dem Fußboden hocken. Judiths Schultern schmerzen und das Gefühl pulsierender Leere in ihren Lungen wird von Minute zu Minute stärker. Gleich wenn die letzte Meditation des Tages beendet ist, wird sie in den Wald fliehen, endlich allein sein, und rauchen. Es wird ein Fest der Freude sein. Sie hofft inständig, dass sie danach wieder klar denken kann. Der erste Tag im Aschram hat sie apathisch gemacht, vielleicht ist auch ihre erste therapeutische Sitzung bei Heiner von Stetten daran schuld. Gehirnwäsche, denkt sie grimmig, wahrscheinlich ist es das. Patrick ist tot, du lebst. Gebetsmühlenartig hat der Sonnenhofleiter das wiederholt und sie gefragt, wie sich das für sie anfühlt, bis sie am liebsten nur noch geschrien hätte. Aber diese Blöße hat sie sich natürlich nicht gegeben, darf sie sich auch in Zukunft nicht geben, wenn sie im Sonnenhof etwas erreichen will. Stattdessen hat sie versucht, das Gespräch auf den Sonnenhof zu lenken, seine Bewohner und mögliche Konflikte. Erfolglos. Zwar reagiert Heiner von Stetten nicht so feindselig auf ihre vorsichtigen Fragen wie seine Frau oder der rothaarige Vedanja, trotzdem hat er sich nichts entlocken lassen, was sie auch nur ein bisschen weiterbringt. Alle im Sonnenhof sind Meister im höflichen Schweigen. Der Einzige, der offenbar gern ein Schwätzchen hält und ihr einigermaßen offen und gut gelaunt begegnet, ist der Schreiner Ben, vermutlich, weil er in seiner Werkstatt nicht ganz so strengen Regeln unterliegt. Doch als sie versucht hat, das Gespräch auf eine mögliche Verbindung des Sonnenhofs mit dem toten Andreas Wengert und auf seine ehemalige Mitbewohnerin Darshan zu lenken, hat auch er gemauert.
Nebelschleier kriechen aus dem Bachbett, als sie eine Stunde später die Sonnenhofgebäude hinter sich lässt. Sie folgt einem Trampelpfad an den Ställen vorbei, genießt die feuchte Nachtluft, ein Streicheln in ihrem Gesicht. Der Trampelpfad endet vor einem Stapel Baumstämme, sie klettert halb hinauf und findet einen perfekten Sitzplatz. Der erste Zug tut beinahe weh, scheint in ihrer Lunge zu explodieren. Als sie die dritte Zigarette ausgedrückt hat, sind unten im Tal alle Lichter erloschen, die Gebäude schwimmen in dichtem Nebel wie eine Herde träger Schatten, so friedlich und still, dass es unvorstellbar scheint, dort könnte ein Mörder leben.
Zu Anfang ihrer Karriere im KK II hat Judith insgeheim geglaubt, dass man sehen können müsste, wozu Menschen fähig sind, durch ein verräterisches Zucken im Mundwinkel etwa oder eine gewisse Leere im Blick. Die Erkenntnis, wie vollkommen normal – wie menschlich – ein Mörder wirken kann, war ein Schock. Der zweifache Familienvater, der Patrick erschossen hat, war vor der Tat niemals polizeilich aufgefallen. Ein friedlicher Typ, der mit Vorliebe karierte Hemden trug und sich einmal im Monat beim Frisör Dauerwellen legen ließ. In seiner Freizeit sammelte er Ansichtskarten vom Kölner Dom und engagierte sich als Schatzmeister im Anglerverein »Hecht 1851 e.V.«. Er trank gern Malzbier. Eines Tages hatte sein Arbeitgeber Kurzarbeit angeordnet und plötzlich verrannte sich der Mann in die Idee, dass seine Frau ihn betrog. Als die sich gegen seinen Argwohn nicht mehr anders zu helfen wusste, drohte sie, vorübergehend zu ihren Eltern zu ziehen. Einen Tag später erhielt er die betriebsbedingte Kündigung, klaute seinem besten Freund die Pistole, erschoss seine Schwiegereltern und nahm Frau und Kinder als Geiseln. Eine Nachbarin alarmierte die Polizei. Als die ersten Beamten eintrafen, eröffnete der Mann das Feuer aus dem Klofenster. Patrick war
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