Der Wald ist schweigen
die Tür des Vernehmungszimmers auf und die beiden Kripobeamten hasten auf quietschenden Gummisohlen herein. Wenn es nicht so würdelos wäre, könnte man es direkt spannend finden, denkt Juliane Wengert. Inzwischen hat sie gelernt, die Zeichen zu deuten. Je beiläufiger und unbeteiligter dieser Manfred Korzilius mit seinem Bübchencharme dreinschaut, desto siegesgewisser ist er, desto vernichtender ist seiner Meinung das, was er im nächsten Moment an vermeintlichen Indizien gegen sie vortragen wird. Sie lehnt sich zurück und zieht die rechte Augenbraue ein ganz klein wenig hoch. Sie wird einen Teufel tun, ihm das Spielfeld zu überlassen oder klein beizugeben. Sie versucht, nicht daran zu denken, dass diese beiden jungen Kerle sich vermutlich feixend über ihre Wäscheschublade hergemacht haben, während sie in einer schäbigen muffigen Zelle zur Untätigkeit verdammt war. Sie wird neue Wäsche kaufen, sobald sie die Gelegenheit dazu bekommt.
»Ihr Mann hatte ein Verhältnis mit einer Schülerin.«
»Nein!« Ihre Stimme ist rau und zu laut. Es kann nicht sein! Sie hat schließlich selbst dafür gesorgt, dass das Mädchen verschwindet. Warum macht dieser Bubi-Kommissar dann aber so ein Pokerface? Sie fühlt, wie ihr eine Hitzewelle ins Gesicht steigt. Bitte, bitte, bitte, fleht sie innerlich, ohne zu wissen, was sie eigentlich will oder wer ihr helfen soll.
»Es gibt Zeugen. Das Mädchen selbst hat es bestätigt.« Alle drei Männer beobachten sie aufmerksam.
»Das Mädchen?« Sogar sie selbst kann die Angst in ihrer Stimme hören.
Der Bubi-Kommissar lächelt und schiebt ein Porträt im edlen Holzrahmen zu ihr hinüber. »Eine Schülerin Ihres Mannes. Tanja Palm.«
Das ist nicht die, mit der sie Andreas erwischt hat. Das muss ein schrecklicher Irrtum sein. Eine Falle. Oder noch eine Wahrheit, die sie nicht kennen, nicht ertragen will. Sie kann nicht aufhören, das Mädchengesicht anzustarren.
»Frau Wengert? War es nicht so, dass Sie Ihrem Mann heftige Szenen gemacht haben, weil er Sie mit Tanja Palm betrogen hat?«
»Nein!«
»Frau Wengert, das ist doch lächerlich. Tanja Palm hatte eine Affäre mit Ihrem Mann, Ihre Auseinandersetzungen darüber waren bis in die Nachbarhäuser zu hören. Und weil Ihr Mann die Affäre nicht aufgeben wollte, haben Sie ihn umgebracht.«
»Nein, nein, nein!« Es kann nicht sein, es darf nicht sein. Diese Tanja muss eine Erfindung der Polizei sein. Er hatte ihr doch versprochen, dass es nicht wieder vorkommt. Und schon gar nicht mit einer Schülerin.
Sie deutet auf das Foto. »Wie alt ist sie?«
»18.«
Wenigstens können sie seinen Namen nicht posthum wegen Verführung Minderjähriger in den Dreck ziehen. Aber trotzdem, die Schande! Wie soll sie in Bonn wohnen bleiben, wenn erst einmal bekannt wird, dass ihr Mann sich an seinen Schülerinnen vergriffen hat? Was wird ihre Familie sagen, die diese Ehe ohnehin niemals gebilligt hat? Wie soll sie arbeiten, einkaufen gehen, leben? Und wie soll sie verkraften, dass sie Andreas nicht einmal mehr zur Rede stellen, anschreien, aus dem Haus jagen kann? Sein erneuter Betrug wird sie – das sieht sie plötzlich mit glasklarer Hellsichtigkeit – für immer an ihn binden, ihr ganzes Leben, und ihre Gefühle dominieren. Sein erneuter Betrug ist noch grausamer als sein Tod, raubt er ihr doch die Möglichkeit zu trauern. Es gibt keine Chance mehr, irgendetwas zu bereinigen, gerade zu rücken, wieder gutzumachen. Andreas ist endgültig, unwiderruflich, für immer verloren für sie und wird sie doch niemals in Frieden lassen. Warum hat er ihr das angetan?
»Wollen Sie uns nicht endlich sagen, wie es gewesen ist?« Die Stimme des Kommissars schmeichelt.
Etwas zieht sie nach unten, in eine Tiefe, die sie niemals erkunden wollte. Sie kann sich nicht dagegen wehren. Ihre Stirn schlägt hart auf die schrundige Resopal-Tischplatte. Jemand ruft ihren Namen. Eine Hand gräbt sich in ihre Schulter und reißt sie hoch. Sie macht sich schwer, lässt sich fallen, dass das Reißen beinahe unerträglich wird, ein heißes Messer, das in ihren Oberarm fährt. Aber das ist gut, damit kann sie umgehen. Dieser Schmerz geht vorbei. Sie beginnt zu schreien.
***
Kermit, der Rothaarige, führt Judith zu Heiner von Stetten und gibt sich dabei keine Mühe zu verhehlen, dass ihm ihr erneuter Besuch im Sonnenhof missfällt. Heiner von Stetten selbst sitzt an diesem Morgen an seinem Schreibtisch, offenbar vertieft in wichtige buchhalterische Angelegenheiten.
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