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Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Titel: Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Tessendorf
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Leber oder Milz, die den Menschen am Leben erhalten, ohne dass er deren Arbeit spürt. In ihren Adern floss grüner Pflanzensaft, die Fingernägel bekam sie gar nicht mehr sauber und die Feuchtigkeit durchdrang ihr rotblondes Haar, so dass es sich leicht wellte. Doch längst hatte die Stadt von ihr Besitz ergriffen. Schleichend und beharrlich hatten sich Großstadtgeräusche und das ständige Licht bei Olga eingenistet und ihr den steinernen Rhythmus aufgezwungen.
    Die vierte Kehre nahm Olga schon schwer atmend in Angriff. Sie hatte vergessen, wie extrem die Steigungen und wie scharf die Kurven im Bergischen Land waren und wie mühsam man ohne Fahrzeug vorwärtskam. Bei ihren wenigen Besuchen in der alten Heimat, die allesamt schon eine Ewigkeit zurücklagen, war sie immer mit dem Auto gekommen, hatte vor dem Haus ihres Vaters geparkt und war bald wieder abgereist. Dieses Mal aber war sie mit dem Zug gefahren, und der Bus hatte sie in den äußersten Osten der Stadt gebracht. Das letzte Wegstück, das steil den Wald hinaufführte, wollte sie zu Fuß bezwingen.
    Die Vorzeichen dieses Besuchs waren anders als sonst. Sie ließ sich darauf ein, Erinnerungen an ihre Kindheit zurückzuholen, an den Geruch, die Stille. Schon während der Zugfahrt hatte sie sich auf den Anblick der tief verborgenen Täler gefreut, der sich bot, wenn man in die Höhe stieg.
    Aber sie hatte vergessen, wie drückend heiß es schon im Frühsommer werden konnte.
    Hinter der fünften Steilkehre kamen die ersten geduckten Häuser zum Vorschein. Sie drängten sich so dicht zusammen, als fürchteten sie sich, allein dazustehen, oder als suchten sie in der Nähe Trost, weil man sie hier in der Einsamkeit auf halber Höhe vergessen hatte. Es waren nur wenige, denn für ganze Dörfer boten die engen Täler keinen Platz.
    Alles kam Olga viel kleiner und schäbiger vor als früher. Selbst das Haus am Eingang des Weilers, in ihrer Erinnerung groß und stattlich, war jetzt nur noch ein einfaches Bergisches Fachwerkhäuschen. Die schwarz verschieferte Wetterseite war angenagt von ewiger Feuchtigkeit, die eine hauchdünne, grüne, alles bedeckende Moosschicht nährte. Olga war enttäuscht. Der optimistische, manchmal verherrlichende Blick eines Kindes war der nüchternen und kritischen Sichtweise einer Erwachsenen gewichen.
    Langsam ging sie durch den Weiler. Als Olga das letzte Haus passierte, hinter dem der Weg steil in die Einsamkeit hinaufführte, nahm sie den Modergeruch wahr, der aus einem geöffneten Fenster drang. Dazu roch es nach säuerlicher Gemüsesuppe und abgestandenem Zigarettenrauch. Sie beschleunigte ihren Schritt und fragte sich, wann die Bewohner wohl das letzte Mal den Weg hinauf zu der Anhöhe gestiegen waren, um den eigenen Ausdünstungen zu entfliehen.
    Olga hatte drei Wochen hier draußen vor sich. Mit dem Verlagsauftrag für die Illustration des Märchenbuches würde sie erst unmittelbar nach ihrer Rückkehr beginnen, aber vorbereiten wollte sie sich. Sie würde fotografieren und erste Skizzen erstellen, Studien, die ihr später als Grundlage für die Zeichnungen dienen sollten. Die Einladung zum Klassentreffen passte perfekt in ihre Zeitplanung.
    Und Olga wollte eine Entscheidung treffen. Sie hatte sich vorgenommen, so lange in der alten Jagdhütte ihrer Familie zu wohnen, bis sie den Entschluss fassen konnte, das Haus entweder zu verkaufen oder zumindest so lange zu hüten, bis eine für alle akzeptable Lösung gefunden war. Olga wusste allerdings, dass drei Wochen nicht ausreichen würden, drei Monate vermutlich auch nicht. Wahrscheinlich würde sie nach Ablauf der Zeit die Fenster und die Türen wieder verschließen, den Schlüssel zu Konrad bringen und ein schlechtes Gewissen haben, das bohrende Gefühl, etwas im Stich zu lassen. Denn dieses Haus war mehr als ein Wochenendhaus, es war Bestandteil ihres Lebens. Es war das Fundament ihrer Kindheit.
    In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Olgas Urgroßvater Hagen als einfacher Jagdunterstand errichtet, hatte sich die Hütte im Laufe der Jahre zu einem stattlichen Holzhaus gewandelt. Nach und nach waren behutsam einige Veränderungen durchgeführt worden. Hier ein Wasserrohr, dort eine neue Mauer. Nicht immer fachmännisch, von Ästhetik am Bau gar nicht zu sprechen, aber zweckmäßig. Olgas Vater Roman wollte immer ein wenig Freiheit verspüren, wenn er hier war. Dieses Gefühl stellte sich seiner Meinung am ehesten ein, wenn die Dinge provisorisch blieben, wenn

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