Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
der gegenüberliegenden Seite wieder hinaufzusteigen. Thorvald hatte sich mit dem Taxi bis zu der Stelle bringen lassen, an der die asphaltierte Straße einfach aufhörte.
»Hier endet die Fahrt«, hatte der Taxifahrer gesagt. »Von hier aus kommen Sie nur noch zu Fuß weiter.«
»Ich weiß.«
Thorvald hatte die Hitze unterschätzt und erreichte das »Luis« ziemlich durchgeschwitzt. Als er, eine halbe Stunde zu früh, auf der Veranda des »Luis« stand, kam ihm ein dunkelhaariger, hochgewachsener Mann entgegen, der ebenfalls nicht die beste Kondition zu haben schien. Schwer atmend wischte dieser sich gerade den Schweiß von der Stirn.
»Mein Gott … Junge … bist du alt geworden!«, rief Thorvald in diesem Moment, schleuderte seine Reisetasche von sich und machte zwei große Schritte auf seinen besten Freund aus Kindertagen zu. Er packte ihn mit beiden Händen an den Schultern und zog ihn zu sich heran. Als sie sich nach einer ganzen Weile aus der Umarmung lösten, wischten sich beide verstohlen die Tränen aus den Augen.
Wenig später schon war der Parkplatz unterhalb des Restaurants voll. Die Schlange der halb auf der schmalenStraße, halb im abschüssigen Wald geparkten Autos zog sich immer weiter den Berg hinab.
Thorvald und Benno saßen auf dem Holzgeländer der Veranda und beobachteten vergnügt das fröhliche Treiben. Immer wieder zeigte Benno auf einen ihrer ehemaligen Mitschüler, Thorvald schaute, lachte ungläubig, winkte, schlug sich die Hände über dem Kopf zusammen.
Und er suchte nach dem einen Gesicht.
Immer wieder schaute Benno seinen Freund an, als könnte er es gar nicht fassen, dass er wirklich da war. Bis zum letzten Moment hatte er gezweifelt, dass Thorvald zum Klassentreffen kommen würde. Er hatte Thorvalds Karriere mitverfolgt; mehrere Male hatten sie sogar miteinander telefoniert und vereinbart, dass sie sich sehen würden, wenn ein Auftritt ihn in diese Gegend bringen würde. Das war vor zwei Jahren gewesen. Seither hatten sich Thorvalds Auftritte gehäuft, doch bislang hatte es ihn noch nie in die alte Heimat verschlagen.
»Kriegen wir heute noch eine Kostprobe von deinen Sangeskünsten – oder hast du deine Playback-Anlage nicht dabei?«, spottete Benno
Die Stimmen waren so vertraut, dass Thorvald sich langsam, mit erwartungsvollem Grinsen herumdrehte. Ines und Hanna, die während der gesamten Schulzeit unzertrennlich gewesen waren, sahen aus, als wären sie gleich nach dem letzten Schultag vakuumverpackt und erst jetzt wieder ausgewickelt worden. Die vielen Jahre hatten sich verflüchtigt. Alles, was in der Zwischenzeit geschehen war, hatte für diesen kurzen Moment seine Bedeutung verloren.
Es war bereits halb sieben und die Spannung stieg. Wer würde kommen, wer nicht? Es war das erste Wiedersehen,seit das Abitur sie alle getrennt und jeden einzelnen auf einen anderen Weg geschickt hatte.
Als Olga den Raum betrat, stand die Luft trotz aller geöffneten Verandatüren drückend schwer im Raum. Am liebsten hätte sie sich auf dem Absatz umgedreht. Doch schon war sie entdeckt worden. Einige ihrer ehemaligen Klassenkameraden kamen auf sie zugestürmt und zerrten sie in die Runde.
»Olga, wie schön! Wir dachten schon, du würdest nicht kommen«, rief eine Frau, die Olga nicht wiedererkannte. Sie war verunsichert und unbeholfen, weil sie keine Wiedersehensfreude verspürte.
»Ich bin’s!«, rief die Frau, die ihr Zögern bemerkt hatte. »Conni! Cornelia Ziegler!«
»Ach du meine Güte …!«
Es folgten Gespräche hier und dort. Olga schüttelte Hände und drückte Wangen, doch ständig huschte ihr nervöser Blick durch die Menge, suchte nach dem leuchtenden, weißblonden Schopf. Wieder einmal stellte sie fest, wie viel sie mit Thorvald verband. Ihr Herz pochte und ihr Mund wurde trocken. Ein wenig schüchtern sah sie sich um und überlegte, wo sie sich hinsetzen sollte. In diesem Moment legten sich von hinten zwei kräftige Arme um ihre Taille, die sie mit lautem Gejohle in die Höhe rissen.
Wie benommen saß Olga wenige Sekunden später neben Thorvald und Benno. Sie lehnte sich zurück, nippte an ihrem Eistee, den Thorvald ihr gebracht hatte, und beobachtete die fröhlich lärmende Runde. Sie dachte an ihre gemeinsame Kindheit, ihre Jugend, die grenzenlosen Leidenschaften, Ängste und nicht erfüllten Hoffnungen. Es waren einige Mitschüler dabei, mit denen Olga vomersten Schultag an bis zum Abitur zusammen war. Alles hatte sich um diese Menschen gedreht,
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