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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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Uns geht es total gut. Er kann sie doch nicht mit der Tatsache behelligen, dass er kurz vor dem Zusammenbruch steht. Er seufzt schwer bei der Erinnerung an die gestrige Premiere. An den Moment, als er völlig aus der Rolle fiel.
     
    In seinem schwarz-weißen Kostüm stand er in der Mitte der Bühne. Das Licht war auf ihn gerichtet, die Augen aller. Jede noch so kleine Geste, jede Regung in seinem Gesicht war im vollbesetzten Zuschauerraum sichtbar. Bis jetzt war alles gut gegangen. Nichts auszusetzen. Er hatte den Geist getroffen.
Räch’ seinen schnöden unerhörten Mord!
Mord?
Der Dialog mit dem König:
Wie, hängen stets noch Wolken über euch?
Nicht doch, mein Fürst, ich habe zu viel Sonne.
Mit Ophelia:
Seid Ihr tugendhaft? Seid Ihr schön?
Und Güldenstern:
Ihr wollt auf mir spielen.
Er hatte Polonius umgebracht, der sich hinter der Tapete versteckte:
Eine Ratte!
, als er sich plötzlich nicht mehr an seinen Text erinnerte. Schlimmer noch. Er stand in der Mitte der Bühne, den Degen in der Hand, und obwohl sich alle Augen auf ihn richteten, war alles weg. Als wäre es nie da gewesen. Nie einstudiert. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
    Wo war er?
    Was hatte er hier zu suchen?
    Die Souffleuse sagte etwas und wartete. Wiederholte den Text. Er sah sie an. Sprach sie mit
ihm
? Er vernahm die Worte, erkannte sie wieder, aber sie ergaben keinen Sinn. Er öffnete den Mund, ihm entfuhr ein kleines heiseres Lachen, das sich nicht anhörte wie sein eigenes, sondern wie von einem Tier in ihm, einem fiesen kleinen Tier. Die Frau auf der anderen Seite der Bühne sah ihn an. Eine stattliche Frau in einem eleganten Kleid und teuren Schuhen. Ihre Haut weiß gepudert wie Porzellan, ihre Augen schwarz umrandet. Tiefrote Lippen. Sie sah besorgt aus, beinahe verzweifelt. Ihr Blick flackerte. Sie erwartete etwas von ihm, das wusste er. Sie hatte ihre Replik gesagt:
Dies ist bloß Eures Hirnes Ausgeburt; in dieser wesenlosen Schöpfung ist der Wahnsinn sehr geübt.
    Wahnsinn? War es das? Sein Mund war trocken, er schluckte und blickte sich um. Der Saal war doch leer? Außer ihm und der Frau dort drüben war niemand hier. Kannte er sie? Sie standen mitten im Raum, im gleißenden Licht. Vom Alter her hätte sie seine Mutter sein können. War sie es? Seine Mutter?
    Er schaute zu Boden und entdeckte, dass sich dort eine kleine Pfütze aus Blut gebildet hatte. Es tropfte vom Degen. Und er verspürte eine tiefe Angst und den Drang, fortzulaufen. Wollte geradewegs durch die vierte Wand, fort von den grellen Scheinwerfern und hinaus in die Welt, auf die Straße, unter den abendblauen Herbsthimmel, in den Park und dann im Schatten der großen Bäume verschwinden. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, aber vielleicht vergingen nur Sekunden, bis er wieder anwesend war.
    Der Wahnsinn? Mein Puls hält ordentlich wie Eurer Takt, spielt ebenso gesunde Melodien; es ist kein Wahnwitz, was ich vorgebracht. Bringt mich zur Prüfung, und ich wiederhole die Sach’ Euch Wort für Wort, wovon der Wahnwitz abspringen würde.
    Später, und nach einigen Gläsern, hatte die Angst sich gelegt und der Zwischenfall war beinahe vergessen. Keiner erinnerte ihn daran, abgesehen von diesem einen Totengräber, der ihn mit «Blackout, was?» in die Seite knuffte. Er hatte sein strahlendstes Lächeln aufgesetzt. «Nicht die Spur. Ich mache es gern spannend.» Über den Zwischenfall während der Probe, der viel erschütternder gewesen war, verlor glücklicherweise niemand ein Wort. Schließlich feierte man die Premiere.
     
    Er stemmt sich aus dem Sofa, geht in die Küche und nimmt sich ein Glas Wasser, trinkt es in einem Zug und gleich noch ein zweites und denkt, wie schon so oft, seit der Regisseur angerufen und ihm die Rolle angeboten hat, dass ein Fehler passiert sein muss. Das Theaterensemble verfügt haufenweise über Schauspieler, die diese Rolle ausfüllen könnten. Er ist nicht der
Typ
. Einer wie er macht sich gut in Actionfilmen, Krimiserien und romantischen Komödien, als Schurke, Flegel und als jugendlicher Liebhaber. Natürlich hat er auch schon auf der Bühne gestanden, aber meistens für leichtere Produktionen. Lustspiele, Verwechslungskomödien und Musicals.
Mamma Mia
,
Chicago
und
Ladykillers
. In Ausnahmefällen hat er Tennessee Williams gespielt und nur ein einziges Mal Strindberg, den Jean in
Fräulein Julie
. Und das
war ein Fiasko. Niemals Shakespeare, niemals Ibsen. Er ist ein Bruder Leichtfuß, ein Entertainer, gehört zu der

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