Der Wald wirft schwarze Schatten
er und sieht die alte Frau vor sich. Ihr haftete etwas Graues und Verstaubtes an, als hätte sie die letzten zwanzig Jahre in einer Abstellkammer verbracht, weggeräumt mit all den anderen unbrauchbaren Gegenständen. Aber ihr Blick war lebendig. Die ganze Zeit hatte es so ausgesehen, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
«Sie hat mir einen Umschlag überreicht. Einen Brief.»
«Und was stand drin?»
«Ich mache doch nicht die Post anderer Leute auf. Der Brief war nicht an mich.»
«An wen denn dann?»
«‹An meinen allerliebsten Robin›. In krakeliger Schreibschrift.»
«Die Arme. Und dann ist sie gegangen?», sagt Anna.
«Ja. Dann war sie weg.»
Er bereut beinahe, dass er ihr nicht einfach zugestimmt und so getan hat, als sei er der, den sie in ihm sah, denn in der Art, wie sie ging, lag etwas unendlich Trauriges und Einsames. Ihre kleinen schlurfenden Schritte und dieser krumme Rücken. Er hatte ihr nachgeblickt, bis sie außer Sichtweite war.
«So viel zu meinem Damenbesuch.»
«Das muss ein harter Schlag gewesen sein», lacht sie am anderen Ende.
«Ich vermisse dich, Anna.»
«Ich dich auch.»
«Tschüs, dann.»
Er geht zurück zum Sofa, lässt sich fallen und schließt die Augen.
Anna. Dieser weiche Nacken, dieses rotblonde Haar. Deine Arme, um mich gelegt. Nur noch ein paar Monate, dann sind wir in Stockholm. Zusammen. Die ganze Zeit.
Er blickt sich im Wohnzimmer des gemieteten Reihenhauses um. Ihm wird nichts fehlen, schließlich kennt er hier keinen, jedenfalls nicht so gut, dass man sich grüßt. Es ist wie in Schweden, man muss Leute kennen, um sie grüßen zu können, und deshalb bleibt man allein. Nur um den kleinen Garten ist es ein wenig schade. Er hat sich nie zuvor mit Gartenarbeit beschäftigt, aber es macht ihm Freude, dort draußen herumzuwerkeln. Dem Garten ist das scheinbar auch gut bekommen, überall wachsen Blumen, Beeren und Pflaumen. Es sieht viel schöner aus als bei ihrem Einzug, grüner. Er könnte wetten, dass Lukas den Garten ebenfalls vermissen wird, so gerne, wie er draußen spielt. In Östermalm wird er dazu nicht oft Gelegenheit haben.
Plötzlich steht Lukas neben ihm.
«Papa, was ist das?» Er hat den Umschlag vom Tisch genommen und wedelt damit.
«Ein Brief», sagt Robert.
«Willst du ihn nicht aufmachen?»
«Nein, er ist nicht an mich.»
«Ist er an mich?»
«Nein.»
«Und warum hast du ihn dann?»
«Gute Frage.»
«Ich will gucken, was drin ist.»
«Okay», sagt Robert. Er gibt sofort nach, obwohl er genau weiß, wie dumm Inkonsequenz ist. Die Quittung dafür wird er später bekommen. Doch er ist selbst ein wenig neugierig. Es ist ja ohnehin nicht möglich, diesen Brief dem richtigen Empfänger zukommen zu lassen, denn es steht kein Nachname auf dem Umschlag.
«Kannst du ihn vorlesen?», fragt Lukas.
Er liest:
Lieber Robin!
Wenn du dies liest, sind wir uns endlich wiederbegegnet. Nun, du erinnerst dich sicher nicht an mich. Du warst ja noch so klein, als ich dich zum letzten Mal gesehen habe! Aber jetzt seid ihr beide bald hier! Stell dir vor, dein Vater kommt am 26 . Und das nach so langer Zeit. Dreißig Jahre ist es her. Was hältst du davon, an diesem Tag ebenfalls zu kommen? Um 13 . 00 Uhr bei mir. Es ist mein Geburtstag, weißt du! Die Adresse lautet Ribbunggaten 8 , das ist in Gamlebyen. Aber das weißt du sicher noch aus den Briefen. Ach, ich habe so viel zu erzählen, und dir geht es sicher genauso, mein Junge.
Deine Omi
«Mensch, Papa, das ist ja toll! Gehen wir hin?»
«Nein.»
«Aber du bist doch eingeladen!»
«Der Brief ist nicht an mich, mein Schatz.»
Er seufzt, faltet das Blatt schnell zusammen und steckt es zurück in den Umschlag. Wieder sieht er die alte Frau vor sich und bereut, was er getan hat. Es gibt eben gute Gründe, warum man die Post anderer Leute nicht lesen soll.
«Guck mal, Papa.»
Lukas hat noch etwas anderes im Umschlag gefunden.
«Ein Schlüssel! Eine Karte!»
Robert faltet die Karte auf. Sie ist alt und an den Ecken verschlissen, in den Falzen sind Löcher. Er betrachtet die Ortsnamen. Gravberget, Brennknuvlen, Gråbeinkjølen, Svartbekken, Stenmyren, Höljberget, Riddarfallet. Scheint ein Waldgebiet an der Grenze zu Schweden zu sein.
«Eine Schatzkarte! Und da liegt der Schatz!», ruft Lukas und zeigt auf ein kleines Kreuz.
Über die Karte zieht sich ein gewundener Bleistiftstrich. Wahrscheinlich stellt er den Pfad dar, der vom Waldweg zum Kreuz führt.
«Es gibt solche Schätze
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