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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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tiefer in den Berg. Weiter hinein ins Dunkel. Die Zeit verschwand, sobald er hier unten war, sie wurde unendlich. Diese dumpfe Stille um ihn herum. In sie hineinschreien, sich heiser brüllen. War er jetzt verrückt? War er einer von denen geworden? Mama! Mama!
    Er hatte nichts außer seinem Kopf. Aber der war so klein, so dünn wie eine Eierschale. Darin war weiches Material, fast flüssig, das schnell anfangen konnte zu verfaulen. Er merkte, wie schwach er war, er verrottete bereits. Er spürte sie, die Dunkelheit, die in ihn hineinsickerte, durch ihn hindurch. Die Dunkelheit, die zu ihm sprach, wenn er aufhörte zu schreien. Versuchte, nicht die Stimme zu hören, die aus der Stille erwuchs. Nicht zu hören, was nicht da war, nicht da sein konnte.
    Er merkt, dass sein Mund trocken ist, und fühlt sich schwindlig. Er stolpert die kleine Treppe hoch, hinaus ins Licht. Schlägt die Luke zu, lehnt sich an die Hauswand, atmet schwer. Er hätte nicht hierherfahren sollen, hätte nicht kommen sollen. Höchste Zeit, dass er abhaut und dahin fährt, wo er hinmuss. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, geht auf die Gartenpforte zu.
    «Hallo?», ruft eine zittrige Stimme.
    Er zuckt zusammen und bemerkt eine alte Frau auf dem Gehweg, die sich auf einen Rollator stützt.
    «Nein, ist das nicht der Wilhelm?», ruft sie aus. «Und ich habe geglaubt, sie hat sich das alles nur ausgedacht. So kann man sich irren. Ja, du erkennst mich doch, oder?»
    Nein, das ist nicht Mutter. Kann sie nicht sein.
    «Lass dich doch mal anschauen.»
    Sie schiebt die Pforte mit dem Gehwagen auf, kommt ihm auf dem Schotterweg entgegen. Er weicht ein paar Schritte zurück.
    «Oh, du hast dich ja rausgemacht. Ja, du warst schon immer ein hübscher Junge. Und du warst wirklich seit dreißig Jahren nicht mehr hier? Wie gefällt es dir, wieder zu Hause zu sein?»
    Sie schlurft auf ihn zu, müht sich ab, starrt ihn mit ihren kleinen Augen an.
    «Ich fürchte, Sie irren sich», sagt er.
    «Ach, Wilhelm, auch wenn du mich nicht erkennst, aber ich erkenne dich! Ich bin es doch, Aslaug! Die Nachbarin! Weißt du nicht mehr? Wie geht es Elise und dem Kleinen? Na, der ist wohl schon groß und ein erwachsener Mann. Sie hat gesagt, dass ihr gemeinsam kommen würdet.»
    Er dreht ihr den Rücken zu. Geht rasch zum Wagen, kramt in seinen Taschen nach dem Autoschlüssel.
    Sie folgt ihm, legt eine schwere Hand auf seinen Arm, starrt ihm in die Augen. «Wie schade, dass du nicht früher gekommen bist. Dass du es nicht mehr rechtzeitig geschafft hast.»
    «Rechtzeitig?», sagt er heiser.
    «Was für eine Wahnsinnsidee von ihr, auf dieses Ding da zu klettern», seufzt sie und zeigt auf die Trittleiter. «Aber sie ist ja so stur. Will unbedingt immer alles selbst machen! Nur gut, dass es draußen passiert ist. Sonst wäre sie nie gefunden worden. Aber zum Glück ist jemand vorbeigekommen!»
    Endlich gelingt es ihm, den Schlüssel in das Türschloss zu stecken.
    «Die arme kleine Evelyn. Sie sagen, dass sie auch einen Schlaganfall hatte. Sie ist im Lovisenberg-Krankenhaus. Im Lovisenberg, hörst du?! Du fährst doch hin und besuchst sie? Tust du das? Versprich es mir!»
    Er öffnet die Autotür, steigt ein, schlägt sie hinter sich zu. Lässt den Motor an, rollt die Straße hinunter. Wirft einen letzten Blick in den Rückspiegel. Die dicke Alte steht immer noch da und winkt.

[zur Inhaltsübersicht]
    19
    Sie durchqueren eine moosbewachsene Ebene, passieren bei einer umgestürzten Wurzel eine Felskuppe. Auf der anderen Seite liegt ein Moor. Robert nimmt die Karte zur Hand. Es sind mehrere Moore eingezeichnet, aber er ist sich nicht sicher, welches es ist. Es könnte Ulvmyra sein, Smalmyra oder Fadermyra.
    Am Rand wachsen Weiden, und auf den kleinen Grasinseln weiter draußen stehen hohe Binsen und Wollgras. Dort wächst auch Sonnentau, bemerkt er, und meint sich an einen Ausflug in ein ähnliches Moor zu erinnern. Er muss noch sehr klein gewesen sein, aber es hat ihn tief beeindruckt. Irgendjemand hat ihm die fleischfressenden Pflanzen gezeigt. Noch heute kann er vor sich sehen, wie eine kleine Fliege in den rötlichen Fängen mit zähem Nektar hängen bleibt, wie sie zuckt, bevor die winzige Pflanze sie verschlingt.
    «Gehen wir rüber?», fragt Lukas.
    «Nein. Das könnte gefährlich sein.»
    «Wieso?»
    «Vielleicht ist weiter draußen ein Schwingrasenmoor.»
    «Was ist das?»
    «Eine Art Schlamm. Schwarz und zäh. Oft kann man es nicht erkennen, weil obendrauf Pflanzen

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