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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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Uniformen. Aber sie sieht keinen, den sie haben möchte. Sie schleicht sich weg von der Ballgesellschaft, geht hinüber ans Fenster. Stellt sich dicht davor, damit der Ausblick nicht durch spiegelnde Lichter gestört wird. Sie schaut hinaus in die Nacht, in den Wald. Es ist Winter und eisig kalt, die Fichten schwanken im Wind und der Schnee wirbelt vorbei. Und einen Moment lang, ohne zu wissen, warum, sieht sie die Arbeitskolonne vor sich, die schuftet und schleppt, die sägt und hackt, mit nackten, blutigen Händen. Die Körper in Lumpen gehüllt, die Füße mit Lumpen umwickelt. Magere Gesichter mit tief eingesunkenen Augen. Russische Gefangene, die für Vater und für sie arbeiten. Für die ganze Familie. Damit diese ganze Pracht möglich ist. Sie wendet sich vom Fenster ab. Untermenschen, sagt sie laut, öffnet den Mund und lacht und wirbelt hinein in den Tanz. Sie ist die hellblonde Königin der Nacht. Die verheiratet werden soll, gut verheiratet. Mit einem Offizier oder einem Kommandanten. Sie hat die freie Wahl.
    Du erinnerst dich doch an den Kleinen? Den süßen, weichen, dunklen, lieben Kleinen. Er war genauso dunkel wie du und genauso hübsch. Es gab ein Band zwischen ihm und mir, ein Herzensband. Ich habe ihn im Arm gehalten und fand es nahezu unglaublich, dass so etwas möglich ist. Dass man für jemanden alles bedeutet. Ich dachte, es würde für immer halten. Aber dann war es vorbei. Niemand zum Festhalten. Niemand, den ich festhalten konnte. Wo ist der kleine Schatz geblieben?
    Ruhelose ruhen nicht, sie flattern hin und her. Zwischen Haus und Loch. Dort bin ich gefallen. Dort liege ich. Dort liegt es jetzt. Es gibt keinen Frieden.
    Ich suche am Bach, am See und im Unterholz. Zwischen den Bäumen, in der Heide, unter dem Laub, vor der Hütte und in den dunklen Räumen. Ich folge dem Marder zwischen den Steinen entlang, folge dem Dachs, der ein Loch unter einer Wurzel gräbt, folge dem Blick einer Krähe, die auf einem Ast sitzt. Ich finde einen hohlen alten Baumstumpf, krieche hinein und kaure mich zusammen und versuche den Abdruck von demjenigen zu finden, der hier zuletzt gelegen hat.

[zur Inhaltsübersicht]
    18
    Der Wellensittich im Bauer zwitschert ein lautes, sich wiederholendes Lied. Wilhelm geht durch die Stube, starrt ihn an und spürt den Impuls, die Hand in den Käfig zu stecken und ihm die kleine Kehle zuzudrücken. Aber er tut es nicht.
    Er geht aus der Stube und die Treppe hinauf zu den Schlafzimmern. Wirft einen Blick in Mutters Zimmer. Da hat sich nichts verändert, dieselbe dunkelrote Farbe an den Wänden, dieselben orangefarbenen Wandlampen, die so schlechtes Licht geben. Dazwischen der Lehnstuhl, das Bett an der Wand. Aber alles ist heruntergewohnt, und stickig ist es hier drinnen, es riecht süßlich und muffig. Ein großer Haufen Schmutzwäsche liegt auf dem Stuhl. Staub schwebt in der Luft, Wollmäuse tanzen in den Ecken. Er geht weiter, öffnet die Tür zu seinem ehemaligen Zimmer und tritt ein. Nicht wiederzuerkennen. An den früher hellgrünen Wänden klebt jetzt eine kleingeblümte Tapete. Schreibtisch und Bett sind weg, dafür steht ein Arbeitstisch an der Stirnwand. Die blauen Regale, in denen er seine Bücher und Spielsachen aufbewahrte, sind cremeweiß gestrichen. Schachteln stehen darin. Er zieht eine heraus, sie ist voller Stickgarn. Zieht eine andere hervor, sie enthält Knöpfe und Reißverschlüsse.
    Er blickt hinauf zur Zimmerdecke und erkennt die Jahresringe im Holz wieder, die er vom Bett aus in allen Details studiert hat. Das Modellflugzeug, das dort oben hing, ist weg. Aber der Haken, an dem es befestigt war, ist noch da. Manchmal hat er sich vorgestellt, er säße in dem kleinen, grau angemalten Flugzeug. Eine winzige Ausgabe seiner selbst, die den Motor startete, sich vom Stahldraht losriss und zum Fenster hinausflog. Er schaut hinaus auf die weiße Wand des Nachbarhauses. Ein Fenster in der Wand. Ein zugezogener grauer Vorhang. Niemand da, der sieht, niemand da, der hört. Er reckt den Hals, sieht das Fleckchen Himmel oben, das klitzekleine Stückchen Blau, an dem er in seinem Modellflugzeug kreiste, zwischen den Wolken, großen weißen Wattebäuschen. Und dann auf und davon.
    Einmal hatte er den Schreibtisch verschoben, war hinaufgeklettert und hatte den Stahldraht mit dem Modellflugzeug abgenommen. Da war er vielleicht elf. Er hatte ein Seil im Schuppen gefunden, das befestigte er mit einem Doppelknoten an dem Haken und machte eine Schlinge, so wie in den

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