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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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wirklich gut gemacht, Lukas.»
    Sie folgen dem Pfad durch die Heide in den wieder dichter werdenden Wald, und nach einer Weile stoßen sie auf ein paar umgeknickte junge Bäume am Wegesrand. Herausgerissen und zerstört, als ob hier ein Berserker gewütet hätte. Völlig zersplittert. Die Büsche rundherum sind plattgedrückt.
    «Papa, guck mal da!», ruft Lukas ein Stück weiter vorne. «Sieh mal!»
    Robert geht zu ihm. Im Blaubeergebüsch liegt ein Kadaver. Sie treten dichter heran und starren das malträtierte Tier an. An der Kopfform kann Robert sehen, dass es ein Elchkalb ist, ansonsten ist nicht mehr viel zu erkennen. Die Brust ist aufgerissen, die Beine sind abgespreizt. Eingeweide, Fleisch, Knochen und blutiges Fell liegen durcheinander, der Kopf hängt kaum noch am Hals, ist ganz verdreht, mit aufgerissenen, erstarrten Augen. Robert sieht, dass es noch nicht lange hier liegt, denn es sitzen erst wenige Insekten auf dem Tier. Das Blut ist frisch und rot. Er schluckt, konzentriert sich, um sich nicht übergeben zu müssen. Um Lukas nicht mit seiner Angst anzustecken.
    «Was ist denn mit ihm passiert, Papa?»
    «Keine Ahnung», sagt er.
    Natürlich weiß er es. Genau davon haben die Jungen im Pfadfinderlager immer geträumt. Die
anderen
Jungen. Stundenlang haben sie darüber phantasiert. Aber gefunden haben sie nie etwas. Ein halb aufgefressener Kadaver – der sicherste Hinweis auf ein Raubtier. Luchs, Wolf oder Bär. Den kaputten Bäumen nach zu urteilen, ist das hier wohl das Werk von einem Bären. Nur ein Bär, der auf den Geschmack von Blut gekommen ist, kann so eine Verwüstung anrichten.
    «Es ist jedenfalls tot», stellt Lukas fest.
    «Ja, das stimmt.»
    «Richtig supermausetot. Das Ärmste.»
    «Komm jetzt.»
    «Sollen wir es nicht begraben?»
    «Begraben?!»
    «Bitte!»
    «Nein.»
    «Ist es gefährlich?»
    «Nicht gefährlich», sagt Robert und sieht vor seinem inneren Auge schon Meister Petz, der längst die Fährte von zarterem Fleisch, von Menschen aufgenommen hat. Robert zieht Lukas zurück, an den zerstörten Bäumen vorbei.
    «Wir müssen aber in die andere Richtung», sagt Lukas.
    «Wir gehen zurück zum Auto.»
    «Aber wir sind doch noch gar nicht da.»
    «Wir gehen jetzt zurück.»
    Lukas lässt sich auf die Erde fallen, verschränkt die Arme und beißt die Zähne zusammen.
    «Komm schon, Lukas. Auf mit dir.»
    «Du bist ein blöder Papa! Erst sagst du, wir machen eine Expedition, und dann doch nicht.»
    Robert sieht sich nach allen Richtungen um, lässt den Blick hin und her wandern, lauscht. Kein Anzeichen von einem Bären. Außerdem ist er sicher satt. Ja, ganz bestimmt.
    «Dann gehen wir eben noch ein Stück. Aber wenn ich das nächste Mal sage, dass wir umkehren, dann gibt es keine Widerworte.»
    Er starrt den Jungen an. Lukas weicht seinem Blick aus.
    «Abgemacht? Ist das okay?»
    «Okay.»

[zur Inhaltsübersicht]
    20
    Sie schwimmt auf dem Meer in einem schaukelnden Schiff, sie segelt hinauf gen Himmel. Gott weiß, wo sie hinkommt, aber irgendein Platz wird es schon sein. Der richtige, den sie verdient hat. Sie war ja so gut. Hat alles so gut gemacht. Evelyn hebt den Kopf vom Kissen, wendet alle Kraft auf, die sie hat. Hallo, ihr da drüben! Ist meine Handtasche da? Die Brille? Hallo! Hört ihr mich? Sie hören nicht, sie sind wieder weg. Die Engel sind nur ganz kurz hier, bevor sie davonfliegen. Sie merkt, dass der Raum sich dreht, dann schließt sie die Augen und erinnert sich, wie sie von der Leiter ins Leere trat und fiel.
    Sie ist klein und alt und verknittert. Dünnhäutig und zart wie Papier. Sie hat nichts Böses getan. Sie hat geschuftet und sich abgerackert in der Schokoladenfabrik. Weit weg von der feinen Gesellschaft. Es gibt nur uns beide, kleiner Liebling. Nur uns zwei. Du kommst doch, mein Junge? Leckere Schnittchen, leckerer Kuchen. Der Kaffee ist noch heiß!
    Sie hebt den Kopf vom Kissen, um Ausschau nach ihm zu halten, und erschrickt, als ihr Blick auf eine steinalte Greisin im Bett nebenan fällt. Ist sie das etwa selbst? Der Kopf umkränzt von schneeweißem Kraushaar, dünn wie die Rispen von Schleierkraut. Ein Mund, der sich öffnet und schließt, kratzende Atemgeräusche dringen aus der Kehle. Halboffene Augen, auf sie gerichtet. Starrst du mich an? Was siehst du? Was versuchst du zu sagen? Andere hätten ihn weggegeben! Ich nicht. Ich ertrug mein Los erhobenen Hauptes!
    Sie hatte einmal jemanden. Hatte ein Kind. Weiß den Namen nicht mehr. Erinnert sich an das

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