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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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Weinen. Winselnd, schluchzend. Ein blödes Geräusch. Aus der Kammer, aus dem Keller. Das Gesicht, wenn sie ihn hinausließ. Dieses kleine Gesicht. Rot und verheult. Verzerrt. Der Mund abwärts gezogen, Tränen in zwei dünnen Streifen, die Augen schmal und immer dunkler werdend.
    Sie starrt zu dem schneeweißen Kopf hinüber, auf den Mund, der sich bewegt. Zerrt an der Stange mit dem durchsichtigen Beutel, zerrt so heftig, dass es im Arm ziept, in dem der Schlauch steckt. Jeder kriegt, was er verdient, und er war ein widerliches Kind. Widerlich, hörst du! Ich habe das Richtige getan. Er hatte es verdient. Wie sein Vater. Sie sind einfach verschwunden. Paff! Weg waren sie!
    Schhhh. Sie ist ja hier. Ihr wurde vergeben, sie ist befreit, umgeben von Schmetterlingen, von Engeln. Alles auf einem Tablett serviert. Der Lohn für die Mühe, sie hat ihn schließlich bekommen. Ihr seid die Einzigen, die noch fehlen. Wo bleibt ihr denn? Der Kaffee wird kalt! Kommt, ich will euch alles erzählen!
     
    Sie wartet, aber niemand kommt. Sie sind allein im Zimmer, sie und die andere. Evelyn wendet das Gesicht ab, schließt die Augen und ruft sich ihren Lieblingstraum in Erinnerung. Sie ist nicht alt, sondern jung. Sie ist im Wald, sie ist allein und sie singt.
    Sie ist weit gegangen, ist seit mindestens zwei Stunden unterwegs, aber sie ist nicht müde. Es ist Mai und der Schnee ist verschwunden. Das Moos ist grün und die Bäume schlagen aus, die Birken tragen einen hellgrünen Schleier. Es dampft aus dem Boden, dampft aus dem Moor. Ein feiner, leichter Nebel, der sich auflöst, wo die Sonnenstrahlen auf ihn treffen. Es riecht gut, nach Erde. Saftig und herb. Sie ist vom Hof weggegangen, hinauf in den Wald, ist gegangen, ohne zu denken. Weiter und immer weiter. Sie hat die letzten Holzeinschläge längst passiert. Hat einen weiten Bogen darum gemacht, aber die Geräusche trotzdem gehört. Die Säge, die Kommandorufe, die Peitschenhiebe und einen Schrei. Schreie tragen weit im Wald. Sie ist schneller gegangen, ist gelaufen, bis sie außer Atem und schweißnass war, dann blieb sie stehen, und es war wieder still. Nur die ruhigen Geräusche des Waldes. Der Wind in den Bäumen, das Murmeln des Baches. Vogelgesang. Denn die Vögel zwitschern und finden einander. Sie bauen Nester und legen kleine Eier, wie sie es immer schon getan haben. Sie kümmern sich nicht um den Krieg. Ich wünschte, ich wäre eine Amsel, denkt sie. Die ebenso hoch, ebenso schön singt.
    Sie geht weiter durch den Wald, trällert vor sich hin. Ist noch nie so weit gegangen. Und sie denkt nicht an die Zeit, wie viel Uhr es ist, dass sie bald nach Hause muss. Heute ist sie frei. Für ein paar Tage, vielleicht Wochen. Denn Vater ist nach Oslo gefahren und wird eine Weile dort bleiben, für wichtige Besprechungen im Reichskommissariat. Ihr droht keine Bestrafung, wenn sie etwas später heimkommt.
    Sie geht an einer Baumwurzel vorbei, die an einen Troll erinnert, einem Baumstumpf, der wie ein Zwerg aussieht, einem Stein, der Ähnlichkeit mit einem Schwein hat. Sie ist jung und schön, und sie singt, während sie geht, sie hat keine Angst, kein bisschen, es ist ja niemand hier. Der Pfad wird immer schmaler, und dann hört er auf. Weiter als bis hierhin geht niemand. Hier, bei dieser Anhöhe, ist er zu Ende. Ab hier ist der Wald unberührt, wild. Mit steilen Schluchten, breiten Mooren und undurchdringlichem Dickicht. Und hinter dem nächsten Bergrücken liegt Schweden. Es ist nicht weit. Was, wenn sie hinüberginge, die Grenze überquerte? Sie lacht laut auf. Was für eine phantastische Idee.
    Aber natürlich tut sie es nicht. Niemand überquert mehr die Grenze, nicht ohne eine besondere Genehmigung. Obwohl sie vermutlich offen ist. Seit das Militärquartier und das Gefangenenlager da sind und sie den letzten Schleuser geschnappt haben, einen halbwüchsigen Jungen und seine Gruppe – eine schwarzhaarige, dunkelhäutige Judenfamilie –, ist es ganz vorbei.
    Mama hatte gefragt, was mit der Familie geschehen war. Das braucht dich nicht zu kümmern, antwortete Vater. Aber du kannst dich darauf verlassen, dass wir sie uns ordentlich vorgenommen haben. Und ohne dass Mama oder irgendjemand nachfragte, hatte Vater trotzdem die ganze Geschichte erzählt, bis ins kleinste Detail. Evelyn schaudert, blickt sich um. Überlegt, ob es wohl hier war, wo sie gefunden wurden, ob das der Baum war, an den sie den Schleuser banden und ihm dann sein Gesicht zerschmetterten, bevor sie ihn

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