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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
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ihr ein ganz eigenes Gefühl, etwas zu wissen, was er nicht wusste. Ein Gefühl, das sie sehr mochte und nicht hergeben wollte.
     
    Sie will jetzt aufwachen, will dahin zurück, wo sie ist, deshalb schlägt sie die Augen auf. Aber der Raum dreht sich, und die Sonne sticht ihr in die Augen. Und alles andere ist Nebel. Sie kann nicht sehen, was um sie herum ist. Es ist nicht wirklich, denn es gibt keinen Himmel. Auch kein Paradies mit nur zwei Menschen, Mann und Frau. Die Wirklichkeit war das, was kam und die Übermacht gewann. Denn Träume können nicht von Dauer sein, das sind sie nie.
    Die Wirklichkeit war ein schwellender Bauch, kaum spürbar zuerst. Aber sie merkte es bald, und sie weinte, während sie über die Möglichkeiten nachdachte. Gab es jemanden, der ihr helfen konnte? Jemanden, der es wegmachen konnte? Aleksej küsste ihren Bauch, streichelte ihn, sagte, es würde alles gut werden. Alles wird gut für die Guten. Am Ende geht alles gut aus. Ich werde unser Kind lieben, du wirst es lieben, wir werden es gemeinsam lieben. Also wuchs es weiter, wurde groß. Und dann war es vorbei, und dann wurde sie böse.
    Du Flittchen, sagte Vater, woher hast du die Kugel? Für wen hast du die Beine breitgemacht, du Sau? Sie hätte das Geheimnis bewahren können, hätte sagen können, dass es ein anderer war. Hätte sich eine Lüge zurechtlegen können. Über einen der Kommandanten, einen der Offiziere. Aber sie war nicht gut im Lügen, und schon gar nicht dem Vater gegenüber. Er hatte diesen Blick, der alle Lügen entlarvte, der alles durchschaute und sie dazu brachte, das zu gestehen, was sie sich geschworen hatte, niemals zu verraten. Aber eine Halbwahrheit konnte sie so verkleiden, dass sie wahr klang. Vater würde ihr glauben, wenn sie sagte, dass der geflohene Russenhäftling im Wald über sie hergefallen sei und sie vergewaltigt habe. Er war ja ein Untermensch, trotz allem. Außerdem war ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Vater würde es gefallen, die Prämie zu kassieren. Die Halbwahrheit würde es auch ermöglichen, dass sie ihr Leben als Prinzessin des Dorfes weiterführen konnte. Denn das wollte sie, jetzt, da sie sah, wie es ihr abhandenzukommen drohte.
    Aber es steckte auch ein Teufel in ihr. Ein höllischer Teufel, der in all das Schöne hineinstechen, es aufschlitzen und zerstören wollte. Es konnte ja ohnehin nicht von Dauer sein. Denn nichts dauert ewig. Und schließlich hatte er ihr das Kind gemacht und sie in diese Situation gebracht. Wäre er nicht gewesen, wäre alles in Ordnung und genauso wie früher. Er war ja bloß ein geflohener Gefangener. Man läuft nicht ungestraft davon. Am Ende holen sie einen immer ein.
     
    Ohne sie hätten die Männer ihn nicht gefunden. Es war ein ganzes Jahr vergangen, seit sie die Suche nach ihm eingestellt hatten. Vater war einer von ihnen, ebenso der Kommandant, den er sich als Schwiegersohn wünschte. Sie führte sie hin, versteckte sich hinter den Bäumen, zeigte auf ihn. Aleksej hackte Holz. Hackte es mit der Axt, die sie ihm geschenkt hatte. Vaters Axt. Sie sahen die Hütte nicht, die er gebaut hatte. Sie sahen nur ihn, und er sah nur sie, seine Liebste. Er sah sie, obwohl sie sich hinter den Bäumen versteckt hatte. Ihre Blicke trafen sich, als er fiel, und er öffnete den Mund. Er konnte gerade noch ihren Namen rufen, ehe sie ihm die Axt entrissen, ausholten und seinen Schädel zertrümmerten. Dieses Geräusch. Es ähnelte keinem anderen. Knirschend, dumpf und irgendwie feucht. Ihr dicker Bauch zog sich zusammen, das Kind darin zog sich zusammen. Sie erbrach sich auf ihre Füße. Stand da an einen Baum gelehnt und erbrach sich, bis der Magen leer war. Sein zerschmettertes Gesicht im Heidekraut. Hirnmasse, Knochensplitter, Blut. Im Moos, auf dem Waldboden. Alle Gedanken, die er jemals gehabt hatte, alle Träume. Das war der Moment, in dem sie starb. Sie ist schon lange tot. Sie ist mit dem Rest davongeflossen. Mit ihren gemeinsamen Träumen, die zerbrochen sind. Zerstört. Weg. Sie floss davon, versickerte in der schwarzen Erde. Kam nicht wieder hoch. Alles ist dort unten geblieben.
    Sie schleiften die Leiche durch den Wald bis hinunter ins Gefangenenlager, ein Streifen Blut zog sich den schmalen Pfad entlang. Sie ließen ihn vor dem Zaun liegen, vier Tage lang, dann warfen sie ihn ins Massengrab. Seht her, das ist es, was euch blüht. Glaubt nicht, dass ihr abhauen könnt. Am Ende finden wir euch, immer.
     
    Ich habe den Mann gehasst, sagte sie zu sich selbst

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