Der Wald wirft schwarze Schatten
erschossen. Das war völlig richtig, ganz zweifellos. Natürlich mussten sie das tun. Mit dem Schleuser und mit dem Judenpack, einer Familie, zu der zwei kleine Kinder gehörten. Wir haben ein Exempel statuiert, sagte Vater. Und das Exempel zeigt Wirkung, wir brauchen nicht einmal Patrouillen in der Gegend. Das traut sich keiner mehr.
Sie geht weiter, immer geradeaus, Richtung Osten. Die Sonne scheint von der Seite, und sie bahnt sich ihren eigenen Pfad durch das dichte Heidekraut. Sie kommt an eine Schlucht, von der sie bisher nichts wusste, sie ist tief und abenteuerlich. Sie klettert hinab, geht weiter, vorsichtig und mit wachen Sinnen. Der Granit ist grau, aber an manchen Stellen glitzert er. Es ist dunkler hier unten, nur vereinzelt fallen Sonnenstrahlen auf das Moos am Boden, das an diesen Stellen leuchtend grün ist. Ein kleiner brauner Bach fließt in der Mitte, und wo die Sonnenstrahlen ihn erreichen, leuchtet er kupfern und golden. Es raschelt in den Bäumen. Sie bleibt stehen, blickt hoch. Ein Vogel fliegt auf, und dann noch einer. Über den Baumkronen ist der Himmel blau mit weißen, dahinziehenden Wolken.
Nach einer Weile steht sie an einem Moor. Sie wagt nicht, es zu überqueren, sondern biegt nach links ab, kommt an ein Dickicht aus Gagel, Wacholder und Kiefern, dicht wie eine Dornröschenhecke. Sie zwängt sich hindurch, will sehen, was auf der anderen Seite ist. Der Wacholder kratzt ihr die Haut auf, aber sie kümmert sich nicht darum. Sie will nur weiter. Denn gleich wird es kommen, das, was immer kommt, wenn sie durch den Wald geht. Das, was geschieht, wenn sie sich in diesem Traum bewegt, und was so wunderbar ist, so herrlich.
Man konnte sie nicht hören, weil der Fluss so rauschte. Aber sie wusste gut, wo sie waren. Alle wussten, wo das Lager war, auf der anderen Seite des Flusses. Man durfte nicht dorthin gehen, durfte nicht hinüberrudern. Das Gebiet war abgesperrt, und diejenigen, die sich ein seltenes Mal mit Lebensmittelpaketen oder Kleidungsstücken dorthin wagten, wurden bestenfalls streng zurechtgewiesen, im schlimmsten Fall der Konspiration verdächtigt und eingesperrt. Aber alle hatten die zerlumpte Arbeitskolonne vorbeigehen sehen, im Morgengrauen und spät am Abend. Die Männer schleppten sich langsam vorwärts, wie um Kräfte zu sparen, die sie längst nicht mehr besaßen. Sie hatte ihre mageren Arme gesehen und ihre knochigen Knie. Einmal war sie hinterhergeschlichen, durch den Wald, hatte gesehen, wie sie schlugen und hackten, sägten und gruben. Wie sie trugen und zogen und zerrten. Sie hatte die Wächter schreien gehört, hatte gesehen, wie sie auf diejenigen eindroschen, die zu Boden fielen.
Sie ist nicht alt, sie ist jung. Eines Tages begegnet sie einem Mann tief im Wald. Und sofort begreift sie, wer er ist. Sie sieht es an dem dunklen Haar, dem dunklen Bart, an der zerlumpten Uniformjacke. Er ist der russische Gefangene, von dem alle reden, der einzige der Geflohenen, den sie Monate zuvor nicht geschnappt haben. Der von dem Transport weiter unten im Tal abgehauen ist. Wochenlang haben sie ihn gejagt. Es war beinahe ein Sport. Sie haben jeden Winkel im Distrikt durchkämmt, jedes Haus und jede Scheune mit ihren Hunden durchsucht. Am Ende nahm man an, dass er erfroren sein musste. Aber hier war er, höchst lebendig, mitten im tiefen Wald.
Sie sieht ihn, bevor er sie sieht. Er hockt am Bach, mit nacktem Oberkörper. Mager, aber stark. Seine Haut ist bronzefarben. Das Haar schwarz. Er wäscht sich, lässt sich Zeit. Trocknet sich schließlich mit einem Lumpen ab, dreht sich um und zieht ein Hemd an, das an einem Ast hängt. Es ist nicht sauber. Aber das macht nichts. Er ist dennoch schön. Erschreckend schön. Sie steht hinter einem Baum, hält den Atem an. Er entdeckt sie trotzdem und macht eine Bewegung, als wollte er sich verstecken. Tut es aber nicht. Es ist ja ohnehin zu spät.
So standen sie eine Weile da, regungslos. Bis ein Vogel direkt über ihnen aufflog, eine Krähe war es wohl. Sie krächzte. Und da lächelte er. Ohne Grund, denn die Krähe war ja nicht lustig. Aber sein Lächeln schimmerte, die Augen blitzten. Er strahlte. Sie standen da und sahen sich an, und die Zeit verlor sich in ihrem Lächeln, bewegte sich nicht vom Fleck. Es gab nichts anderes mehr, keinen Krieg, kein Lager, kein Dorf. Nur sie beide im Wald.
Schließlich schlug sie die Augen nieder, nahm den Rucksack ab, öffnete ihn, wollte ihr Proviantpaket auspacken, es ihm geben. Er winkte
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