Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari F. Braenne
Vom Netzwerk:
getan.»
    «Vielleicht sind sie gestorben, Papa! Oder der Wald hat sie sich geholt. Vielleicht haben sie die falschen Blumen gepflückt. Und dann ist der Troll mit den vier Köpfen gekommen und hat sie in Steine verwandelt. Oder vielleicht sind sie von einer Steinlawine verschüttet worden.»
    «Wer weiß.»
    «Und sie sind völlig zu Brei gequetscht worden.»
    «Es reicht.»
    «Nur Fleisch und Knochen und Haare und gebrochene Arme.»
    Robert bleibt mitten auf dem Weg stehen. Jetzt muss der Junge wirklich den Mund halten. Er dreht sich zu Lukas um und sagt mit unheimlicher Stimme: «Vielleicht hat der Finsterling sie geholt.»
    «Wer ist der Finsterling?»
    «Er kommt ganz leise, macht kein Geräusch.»
    «Und was macht er, Papa?»
    «Er legt sich um dich herum. Langsam. Erstickt dich.»
    «Hör auf, Papa. Hör auf.» Lukas hat Tränen in den Augen.
    «Hast du Angst bekommen?»
    «Ja.»
    «Entschuldige.»
    «Gibt es diesen Finsterling?»
    «Nein.»
    «Ganz sicher?»
    «So sicher wie das Amen in der Kirche.»
    Der Wald öffnet sich wieder ein wenig zu einer Ebene mit Steinen, Heidekraut und vereinzelten kleinen Kiefern. Robert schaut auf die Karte.
    «Hier müsste es ungefähr sein», sagt er und sieht sich um. «Aber hier ist ja nichts.»
    «Da, Papa! Eine Schaukel!»
    Lukas läuft zu einer kaputten Schaukel, die schief an nur einem Seil hängt.
    «Aber nicht schaukeln, Lukas! Bestimmt ist das Seil morsch.»
    Aber Lukas ist längst weitergelaufen und hat etwas anderes gefunden. Ein Stück weiter unten schaut eine graubraune Ecke zwischen den dichten Bäumen hervor.
    «Was ist das da?» fragt Lukas.
    «Das ist wohl das, wonach wir suchen.»
    «Und ich habe es gefunden! Kann ich nicht gut Sachen finden?»
    «Doch, das kannst du.»
    «Eine schöne kleine Hütte.»
    Schön ist eine satte Übertreibung. Man kann es kaum Hütte nennen. Bruchbude beschreibt es besser, und selbst das ist noch schmeichelhaft. Kein Wunder, dass er sie nicht sofort gesehen hat. Sie steht an einem Abhang auf halber Höhe und ist von einem Dickicht aus Kiefern und Wacholder verdeckt. Die verwitterten graubraunen Wände haben die gleiche Farbe wie die Steine und die mit Flechten bewachsenen Kiefernstämme ringsherum. Robert schiebt ein paar Zweige zur Seite und versucht in eines der Fenster hineinzuschauen, aber eine zerrissene Gardine verwehrt ihm den Blick, und das Fenster ist grau von Dreck. Es gibt zwei Türen, eine mit einem Haken davor – sicher führt sie zum Klo –, die andere mit einem Vorhängeschloss.
    «Willst du nicht aufschließen, Papa?»
    «Mal sehen, ob er passt.»
    Er zieht den Umschlag aus der Tasche, fischt den Schlüssel heraus und steckt ihn in das Vorhängeschloss. Und tatsächlich – er passt. Aber das Schloss ist rostig und will sich nicht drehen. Er greift nach der Türklinke und zieht daran. Mehr braucht es nicht, um die rostigen Schrauben, die den Beschlag halten, aus dem morschen Holz zu lösen. Die Tür öffnet sich. Er späht in den dunklen Raum, ehe er einen Schritt über die Schwelle macht. Der Boden schwankt unter seinen Füßen, als könnte er jeden Moment durchbrechen.
    «Das ist alt hier, oder, Papa?»
    «Da kannst du Gift drauf nehmen. Was für ein verdammtes Loch!»
    «Das ist aber nicht besonders nett, Papa.»
    «Aber es ist die Wahrheit», sagt Robert und sieht sich um. Die grauweiße Tapete hat sich gelöst und hängt in großen Fetzen von der Wand. Die Feuchtigkeit hat sich ihren Weg nach drinnen gebahnt und das Furnier auf der Innenseite angegriffen, sodass es Blasen schlägt. Die Decke ist ebenfalls in einem erbarmungswürdigen Zustand, die Farbe blättert ab. Der braune Linoleumbelag mit Ziegelsteinmuster, der den Fußboden bedeckt, hat überall Risse. Ein starker Modergeruch deutet darauf hin, dass das Haus nicht nur von Feuchtigkeit, sondern auch von Schimmelpilz befallen ist. Der kleine Raum, der Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche in einem zu sein scheint, ist fast wie eine Puppenstube eingerichtet. Als hätte jemand aufrichtig versucht, eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen. Allerdings in einem ganz anderen Stil als heute. Das Zimmer kommt ihm vor wie eine Zeitkapsel aus den Siebzigerjahren, eigentümlich unberührt. Sein Blick gleitet über das Stickbild an der Wand, über das Bettsofa mit orange-brauner Häkeldecke und weinroten Cord-Polstern. Alles ist mit einer dünnen schwarzen Staubschicht überzogen. In den brüchigen Fensterrahmen liegen haufenweise tote Insekten. Die zarten

Weitere Kostenlose Bücher