Der Wald wirft schwarze Schatten
«Nein, das stimmt wohl nicht ganz.» – «Wieso?», entgegnete sie. «Du hast doch fürs Abendessen eingekauft», betonte er. «Kann ich denn nicht einkaufen gehen?» – «Doch. Aber dann solltest du es sagen. Dass du im Supermarkt warst.» – «Ich war im Supermarkt.» – «Wo noch?» – «Wo noch, mal sehen. Ich war auf dem Spielplatz.» – «Spielplatz?» – «Ja. Er hat geschaukelt, war auf der Rutsche. Du hättest sehen sollen, wie er sich da gefreut hat.» – «So, aha.» – «Und dann war ich im Waschkeller.» – «Im Waschkeller?» – «Ich hatte Wäsche!»
Natürlich musste sie in den Waschkeller. Die Kleidung, die sie trugen, war sauber. Aber er würde niemals sicher sein können, ob sie
nur
Wäsche gewaschen oder sich da unten mit jemandem getroffen hatte. Oder was, wenn jemand in der Wohnung gewesen war? Der Postbote, der Müllmann oder der Klempner? «Der Klempner? Wovon redest du? Alles funktioniert bestens.» – «Und was ist mit den Nachbarn? Dem von gegenüber, oder dem ein Stockwerk unter uns?» – «Was soll mit ihnen sein?» – «War der hier?» – «Ich kenne keinen von denen. Wir kennen ja niemanden von unseren Nachbarn.» – «Was ist mit den bärtigen Studenten in der Schule?» – «Ich habe keinen Kontakt mehr zu irgendwem von der Schule. Eigentlich könnte ich mir vorstellen, dort wieder anzufangen.» – «Das kann ich mir denken. Und wer soll dann auf das Kind aufpassen?»
Als Robin zwei Jahre alt war, begann sie darauf zu drängen, dass er in den Kindergarten solle. Sie wollte zurück auf die Schule, ihre Diplomarbeit beenden. Er schob es auf die lange Bank, zögerte es hinaus, indem er sagte, das Kind hätte es bei ihr daheim so viel besser. Sie könne das doch von zu Hause aus machen. Das Wohnzimmer war ja praktisch schon ein Atelier. Und so kam es dann auch – sie erhielt eine Ausnahmegenehmigung und durfte zu Hause arbeiten. Ein paarmal im Monat musste sie allerdings zum Examenskolloquium hinunter in die Stadt. Dann machte er sich Sorgen. Besonders, weil sie hinterher so aufgedreht wirkte, viel fröhlicher als sonst. Und dann war da diese Studienreise. Sie
musste
nach Moskau, wie sie behauptete. Das sei obligatorisch. Sie fuhr tatsächlich, und er passte auf das Kind auf. Er und der Junge volle fünf Tage allein zu Haus, während sie unterwegs war. Er übernahm den ganzen Mama-Kram. Machte Essen für den Jungen, ging mit ihm auf den Spielplatz. Nahm ihn hoch, wechselte Windeln, trug ihn herum. Das Kind jammerte die ganze Zeit, wollte zu seiner Mama. Quengelte und schrie. Er gab ihm ab und zu einen kleinen Klaps. Aber nachts war es ruhig. Und wenn er nach ihm schaute, spürte er etwas in sich aufkeimen und wachsen. Das hatte nichts mit
ihr
zu tun. Der Anblick des kleinen Köpfchens auf dem Kissen, die dunklen Locken. Die Ärmchen um das Schmusekaninchen. Das friedvolle kleine Gesicht. Das war so schön.
Er nähert sich Jessheim und fährt eine Weile parallel zu den Gleisen des Airport-Shuttles, bis er die Abfahrt zum Flughafen passiert. Er hätte hier abbiegen, den Leihwagen zurückgeben und auf den nächsten Flieger warten können. Zurück nach Pittsburgh. Oder vielleicht am besten nach New Mexico. Zu den kahlen, weiten Landstrichen, wo es keine Bäume gibt, nur Kakteen und rote Berge am Horizont. Er hätte einen Ausflug nach White Sands machen können, die schneeweiße Wüste in the middle of nowhere. Als er dort unten lebte, ist er manchmal nachts dorthin gefahren. Wenn keine anderen Besucher da waren. Sie sah aus wie ein Schauplatz in einem Fünfziger-Jahre-Film, aufgenommen am Tag, im Sonnenschein, aber durch einen dunkelblauen Filter verfremdet, um den Eindruck zu erwecken, es sei Nacht. Nirgends schien der Mond so hell. Er pflegte dorthin zu fahren, wenn er nicht schlafen konnte. Dann legte er sich in den Sand, wartete darauf, dass die Nacht ihrer Bahn folgte und die Sterne sich weiterbewegten. Wartete auf Sternschnuppen, um sich etwas zu wünschen. Dass er im Sand versinkt, dass der Sand ihn in sich hineinzieht. Ihn begräbt. Alles mitnimmt. Dass es damit erledigt wäre. Aber das passierte nicht. Der Schmerz war das Einzige, was konstant blieb. Der Sandboden wollte ihn nicht haben. Und so stand er nach einer Weile wieder auf.
Er friert am Rücken. Überprüft das linke Seitenfenster, aber das ist zu. Drückt die Fernbedienung für die anderen Fenster. Sie sind alle geschlossen, und die Heizung läuft. Er fährt an den Straßenrand, zieht die
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