Der Wanderchirurg
geklärt. Vielleicht wundert ihr euch, dass meine letzten Gedanken den Menschen da draußen vor unseren Mauern gelten. Aber sie sind Gottes Werk, und unser Schöpfer liebt sie alle, jeden Einzelnen. Gott, meine Brüder, ist groß, gütig und allwissend. Er steckt in jedem Stückchen Brot, das uns sättigt, in jedem Sonnenstrahl, der uns wärmt, in jedem Lächeln, das uns begegnet. Vergesst das nie. Gebt den Menschen da draußen ein wenig mehr von diesem Gott. Gerade auch, weil die Inquisition Seinen Namen befleckt, indem sie im Zeichen des Kreuzes so verblendet tötet.«
Er trank abermals.
»Was nun das Innere dieser Mauern betrifft, so wird in ihnen ein neuer Abt zu wählen sein. Ich habe auch hier einen letzten Wunsch, und es wäre schön, wenn alle Brüder ihn bei der Wahl berücksichtigen würden.«
Seine Stimme klang jetzt sehr offiziell: »Ich möchte, dass Pater Gaudeck an meine Stelle rückt. Ich weiß selbst«, fuhr er rasch fort, »dass eigentlich Pater Thomas als unser Prior mein natürlicher Nachfolger wäre. Aber Thomas ist mit Leib und Seele Heilkundiger, und man täte ihm einen schlechten Dienst, würde man ihn mit der Bürde des Klostervorstehers belasten. Nicht wahr, Bruder?«
Thomas nickte ernst. Er dachte an seine Forschungen und die einzurichtende Schule. Beides würde ihm in der Tat kaum Zeit lassen, den Pflichten eines Abtes nachzukommen. »Ihr habt Recht, Ehrwürdiger Vater. Niemand kennt mich besser als Ihr.«
»Dann wäre das geklärt. Gaudeck, würdest du mir ein zweites Kissen unter den Kopf schieben?«
Der Sekretär, der wie die anderen von dem Wunsch des alten Mannes völlig überrascht war, griff zerstreut zu einem mit Rosshaar gefüllten Leinenkissen. »Äh, ja, sofort.«
»Ich helfe Euch«, sagte Vitus. Vorsichtig hob er Kopf und Oberkörper des Greises an, damit Gaudeck das Kissen darunter stopfen konnte.
»Danke. Und nun, ihr lieben Brüder, möchte ich mit Vitus allein sein. Doch bevor ihr geht, noch eines: Für das heilige letzte Sakrament könnte ich mir keinen Besseren wünschen als dich, mein lieber Cullus.«
»Jawohl, Ehrwürdiger Vater.« Pater Cullus senkte in Demut sein Haupt.
Als die Brüder gegangen waren, spürte Hardinus, wie die Kälte weiter in seinem Körper emporkroch. Oberschenkel und Beckenbereich begannen bereits gefühllos zu werden. Er wusste, wenn die Kälte sein Herz erreichte, würde der Tod seine Arbeit vollendet haben. Bis dahin galt es durchzuhalten.
„Vitus?«
„Ehrwürdiger Vater?«
„Komm her, gib mir deine Hand.« Der Jüngling gehorchte und setzte sich auf den Bettrand. Die Greisenhand fühlte sich an wie ein Stück Pergament.
»So ist es gut. Es gibt ein paar Dinge, die ich dir jetzt sagen muss. Sie sind wichtig für dein weiteres Leben.«
Der alte Mann zögerte. »Bisher magst du geglaubt haben, dass du, wie manche Pueri oblati, als Säugling von deinen Eltern nach Campodios gebracht wurdest, aber bei dir war es anders. Du wurdest nicht abgegeben, sondern gefunden - von mir. Du lagst eines Tages als kleines wimmerndes Menschlein vor dem Haupttor.«
„Ihr ... Ihr habt mich gefunden?« Vitus verschlug es fast die Sprache. Er wusste, dass den Schülern häufig absichtlich verschwiegen wurde, wer ihre Eltern waren, denn die Mönche in Campodios vertraten die Meinung, dass zu starke irdische Bande den Weg zu Gott versperrten. Vitus hatte deshalb nie nach seinen leiblichen Eltern gefragt. Er hatte gelernt, den Abt als seinen Vater und die Brüder als seine Familie zu betrachten. Doch er hatte darauf vertraut, dass man ihm eines Tages seine Herkunft nennen würde.
»Ja, Vitus. Es war vor zwanzig Jahren, anno 1556.«
Aber warum habt Ihr mir das nie erzählt, Ehrwürdiger Vater?«
„Ich wollte dich nicht damit belasten. Außerdem hatte ich immer noch die Hoffnung, dass du einmal die Gelübde ablegen und unser schlichtes Gewand tragen würdest.«
„Das müsst Ihr mir näher erklären!« Ein eiserner Ring legte sich um Vitus' Brust. »Wie habt Ihr mich gefunden? Warum glaubt Ihr, dass ich die Kutte niemals tragen werde?«
»Bitte beruhige dich und lass mir etwas Zeit.« Der alte Mann atmete mühsam. »Du stellst viele Fragen auf einmal.« Liebevoll musterte er das Gesicht des Jungen. Da waren die grauen Augen, die ihn voller Konzentration anblickten. Die hohe, von blondem Haar eingerahmte Stirn, die schmale Nase, der energische Mund und nicht zuletzt das, was Vitus' heimlicher Kummer war: das tiefe Grübchen in der Mitte des
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