Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
Vom Netzwerk:
spanischer Herkunft bist. Was nicht verwundert, denn wie ein feuriger Iberer hast du noch nie ausgesehen.«
    Vitus, der sehr nachdenklich geworden war, strich mechanisch über den Stoff. Zwar hatte er nie gewusst, wer seine Eltern waren, aber er hatte sich immer als Spanier gefühlt. Jetzt war er ein Niemand: Er hatte keine Eltern, keine Heimat, keine Zukunft, selbst seinen Namen verdankte er letztlich nur einer Krankheit.
    Einsamkeit umklammerte ihn.
    Er blickte zur Seite, um seine Schwäche zu verbergen, doch die Hand des Greises zog ihn zurück. »Sei tapfer, mein Sohn«, flüsterte Hardinus, und Vitus sah erstaunt, dass auch der Alte den Tränen nahe war. »Beginne ein neues Leben, ziehe hinaus, stelle dich zum Kampf. Wie gern würde ich an deiner Seite sein.« Die Hand klopfte ihm kaum merklich den Rücken. »Bitte öffne noch einmal die Truhe. Ganz unten am Boden findest du einen Lederbeutel.«
    Vitus räumte den Inhalt der Truhe aus. Er bestand größtenteils aus Folianten. »Ich habe ihn, Ehrwürdiger Vater!«
    »Leere ihn hier auf dem Schemel.« Klingend fiel eine Reihe großer Münzen heraus. Selbst im Halbdunkel der Kammer blitzten sie auf. Sie waren aus purem Gold.
    »Es sind fünf doppelte Goldescudos«, flüsterte Hardinus, »und sie sind dein.«
    »Ehrwürdiger Vater, ich brauche kein Geld.«
    »Ich bestehe darauf. In der Welt da draußen ist nichts umsonst.«
    Widerstrebend sammelte Vitus die Münzen auf und steckte sie in den Beutel zurück. Er wusste nur wenig von den Ländern dieser Welt, und er wusste noch weniger, wohin er sich wenden sollte. Trotzdem spürte er, wie es ihn hinauszog. Hardinus, der Vitus' Gedanken erraten hatte, flüsterte: »Ich war mir sicher, dass es dich reizen würde, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Aber es will wohl überlegt sein, wohin du dich wendest.«
    »Ja, Ehrwürdiger Vater. Aber ich habe das Gefühl, als müsste ich eine Nadel im Heuhaufen suchen.«
    »Richtig, deshalb werden wir den Heuhaufen
    verkleinern.«
    »Wie meint Ihr?«
    »Wir müssen den Heuhaufen gedanklich verkleinern. Indem wir ein, zwei Dinge als wahrscheinlich annehmen. Erstens gehen wir davon aus, dass dieses Wappen dein Familienwappen ist. Dadurch ist auszuschließen, dass du spanischen Geblüts bist. Nehmen wir zweitens dein Aussehen hinzu: Es ist ein Indiz dafür, dass du eher aus dem Norden Europas stammst.«
    »Aber auch der Norden ist groß.« Vitus war noch immer skeptisch.
    Abt Hardinus schüttelte den Kopf und versuchte, seine letzten Energien zu konzentrieren. Die Kälte schlich sich immer höher. Schon griff sie nach seinem Herz. Der Tod hatte es eilig. Nun, er brauchte nicht mehr viel Zeit. Hardinus sprach weiter: »Ich meine das Englische Königreich. Gehe nach England. London ist ein Knotenpunkt für Kontakte aus aller Welt. Dort findest du vielleicht jemanden ...« Er schwieg erschöpft.
    »England«, wiederholte Vitus. Der alte Mann hatte mit wenigen Überlegungen das Schlüsselwort herausgefiltert. Auf einmal schien alles ganz logisch. War England die Nadel im Heuhaufen?
    Vitus wusste über dieses Land so gut wie nichts. Tüchtige Händler und mutige Seeleute sollten dort leben. Ihre Schiffe allerdings galten als lächerlich klein und hielten einem Vergleich mit den spanischen Galeonen nicht stand. Um nach England zu kommen, würde er eine Schiffspassage brauchen. »Ein Schiff nach England ...«, flüsterte Hardinus. Er war kaum noch zu verstehen. Seine Gesichtszüge erstarrten. Er spürte jetzt deutlich, dass seine Lebenskraft nicht mehr bis zum heiligen Letzten Sakrament reichen würde. Doch auch das war schließlich Gottes Wille. Und Gott hatte ihm dies bereits angekündigt. Es war gut so.
    »Geh nach Santander ... dort ... ein Schiff nach London ...«
    Entkräftet schwieg er.
    Und langsam, ganz langsam hob der Abt Hardinus ein letztes Mal seine Hand, um das Kreuz zu schlagen. »Gib mir ... das ... Kruzifix.«
    Vitus' Gedanken überstürzten sich, während er auf den Schemel stieg und seine Hand nach der kleinen Figur tastete. Er blickte hinab. Was er sah, war nur noch ein kleiner, alter Mann, dessen Geist sich anschickte, den Körper zu verlassen. Vitus legte das Kruzifix auf die eingefallene Brust und fügte die Hände darüber zusammen.
    »Ehrwürdiger Vater«, hörte er sich stammeln, »bitte, Vater, bitte! Ihr dürft noch nicht sterben!« Unaufhaltsam stiegen ihm die Tränen in die Augen. Seine Schultern begannen zu zucken. Aus seinem Inneren kamen Laute, die er noch

Weitere Kostenlose Bücher