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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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Vorratskammern verfügte. Auch auf Greenvale Castle schien das Leben stillzustehen. Die Menschen rückten zusammen und dankten dem Allmächtigen, dass er ihnen im vergangenen Jahr eine gute Ernte beschert hatte.
    Vitus und der alte Lord verbrachten viele Stunden gemeinsam am Kaminfeuer. Aus ihrer anfänglichen Sympathie füreinander war rasch eine tiefe Verbundenheit geworden. Sie stellten fest, dass es, trotz ihres großen Altersunterschieds, kaum etwas gab, über das sie nicht in gleicher Weise dachten. Darüber hinaus fanden sich sogar Gemeinsamkeiten in ihrem Leben, denn Lord Collincourt hatte in jungen Jahren einige Schiffsreisen unternommen, und er wusste noch gut, wie es an Bord eines Seglers zuging. Seine Fahrten hatten ihn bis in die Karibik geführt, weshalb sein besonderes Interesse Taggart und dessen Kaperfahrt galt.
    Bei ihren Kaminplaudereien geschah es nicht selten, dass der Magister ihnen Gesellschaft leistete. Der kleine Gelehrte erwies sich auch hier als ein lebhafter und einfühlsamer Gesprächspartner, dazu kam, sehr zur Freude des Lords, dass er das Schachspiel gut beherrschte. Nachdem Vitus ebenfalls die Figuren zu setzen gelernt hatte, konnte jeder gegen jeden spielen.
    Auch dem Zwerg Enano war ein Schachzug gelungen - allerdings auf anderem Gebiet: Er hatte es verstanden, die bis dahin als uneinnehmbar geltende Mrs. Melrose für sich zu gewinnen. Kaum hatte das Techtelmechtel der beiden sich herumgesprochen, sorgte es auch schon im ganzen Schloss für Gelächter und nicht enden wollenden Gesprächsstoff. Doch den listigen Winzling focht das nicht an, da er jetzt an der Quelle aller leiblichen Genüsse saß. Vitus musste in dieser Zeit häufig an Arlette denken. Es gab Augenblicke, da er sich mit jeder Faser seines Herzens nach ihr sehnte. Ihr Lächeln, ihre Natürlichkeit, ihre Weiblichkeit - alles das erschien wieder und wieder vor seinem inneren Auge, so deutlich, als stünde sie vor ihm. Viele Male griff er zu Feder und Papier, um das grausame Missverständnis, das zu ihrer Trennung geführt hatte, aufzuklären - und genauso oft legte er beides wieder beiseite, denn er fand einfach nicht die richtigen Worte. Sie ihrerseits, das wusste er, würde ihm niemals nach Greenvale Castle schreiben, schließlich war er in ihren Augen ein Lügner und Hochstapler, der ganz gewiss nicht auf dem Schloss lebte. Doch fragte er sich sorgenvoll, warum nicht wenigstens sein Onkel eine Nachricht von ihr erhielt. Wenig später traten bei Lord Collincourt die ersten Anzeichen der Zitterkrankheit auf. Es war ein tückisches Leiden, bei dem der Kranke seine Hände keinen Augenblick ruhig zu halten vermochte, seine Stimme einem kaum vernehmbaren, monotonen Singsang glich und seine Schritte mit der Zeit so winzig klein wurden, dass sie ihn nicht mehr vorwärts trugen. Vitus wusste, dass alle ärztliche Kunst hier versagte. Die Krankheit führte unweigerlich zum Tod, doch konnten bis dahin Jahre vergehen - bei immer stärker auftretenden Beschwerden, bis hin zur völligen Hilflosigkeit. Angesichts dieser tragischen Entwicklung kamen Vitus seine Sehnsüchte klein und unbedeutend vor. Er beschloss, von Stund an alles zu tun, um seinem Onkel die Zeit, die ihm noch verblieb, so angenehm wie möglich zu machen.
    »Einer trage des andern Last«, so hieß es in der Heiligen Schrift, und Vitus wollte die seine in Demut hinnehmen. Denn Gott hatte es gut mit ihm gemeint. Er hatte seine Hand schützend über ihn gehalten und in den Augenblicken höchster Lebensgefahr dafür gesorgt, dass er den Namen »Vitus« zu Recht trug. Er hatte ihm gute Freunde an die Seite gestellt. Und er hatte ihm den Weg zu seinem Zuhause gewiesen. Seinem Ratschluss wollte er sich beugen. Auch auf die Gefahr hin, Arlette vielleicht nie wieder zu sehen. Alles lag in Seiner Hand.

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