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Der Wanderchirurg

Der Wanderchirurg

Titel: Der Wanderchirurg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serno Wolf
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Pater Thomas gegen Mitternacht einnickte, übernahm ich seine Arbeit, doch auch ich muss gegen Morgen eingeschlafen sein. Ich wachte erst auf, als es heller Tag war. Der ganze klösterliche Tagesablauf war für mich durcheinander geraten. Mein erster Gedanke galt der Morgenmesse, die ich versäumt hatte - und damit die Gelegenheit, ein letztes Gebet für dich zu sprechen. Als Antwort auf meine krausen Gedanken vernahm ich ein kräftiges Geschrei aus der anderen Ecke des Zimmers.
    »Gelobt sei Jesus Christus!«, rief ich und konnte es kaum glauben. Doch es war Wirklichkeit: Du hattest die Nacht überstanden und die Krisis gemeistert. Der Allmächtige hatte dir das Leben ein zweites Mal geschenkt.
    »Leben«, lateinisch vita, in seiner männlichen Form vitus... ja, das sollte dein Name sein! Ich beschloss, dich fortan Vitus zu nennen.«
    Vitus' Lippen formten den Namen, der für ihn plötzlich eine ganz neue Bedeutung hatte: »Vitus ... Und es gibt wirklich nicht den kleinsten Anhaltspunkt für meine Herkunft?«
    »Nun«, der Greis sprach kaum hörbar, »es gibt vielleicht ein Zeichen. Aber ich will nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst. Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten.«
    »Ein Zeichen? Was für ein Zeichen?«
    »Einen Augenblick, das Luftholen fällt mir immer schwerer.« Hardinus versuchte, tief zu atmen, um seine nahezu verbrauchte Lebenskraft noch einmal zu aktivieren. Mühsam blinzelte er, denn auch sein Augenlicht schwand. Dann hob er nochmals an: »Als ich dich fand, fiel mir etwas auf - ein schwerer roter Damaststoff, der dir als Wickeltuch diente.«
    »Damast?«, fragte Vitus verwundert, »ein ungewöhnlicher Stoff für eine Kinderwindel!« »Richtig, aber das eigentlich Besondere war ein aufgesticktes Wappen.« Der Greis deutete in die hintere Ecke der Kammer. »Siehst du dort meine alte Eichentruhe?«
    »Natürlich, Ehrwürdiger Vater.«
    »Darin liegt es.«
    Vitus war mit wenigen Schritten bei der Truhe und holte das Tuch hervor. Es war ein schwerer Stoff, ungefähr von der doppelten Größe einer Windel, ziemlich zerknittert im Laufe der Jahre, aber sonst unbeschädigt.
    »Gib es mir in die Hand, ich muss es fühlen ... Ja, das ist das Tuch, ein Zweifel ist ausgeschlossen.« Die knöchernen Finger ertasteten den golddurchwirkten Faden, der im oberen Bereich einen fauchenden Löwen zeigte. Schlangengleich wand er sich über einer ringförmigen Figur. »Sieh her, dieser Ring unter dem Löwen könnte eine Weltkugel darstellen.« Die Finger wanderten weiter. »Bei flüchtiger Betrachtung wirst du im Zentrum nur ein stilisiertes Schiff erkennen, aber bei näherem Hinsehen bemerkst du, dass seine beiden Segel nicht nur dreieckig sind, sondern einander auch spiegelverkehrt gegenüberstehen.« »Ich sehe es.« Vitus war Feuer und Flamme. »Und was hat es mit dem Löwen auf sich?«
    »Der Löwe als Wappentier sagt leider nicht viel. Er findet sich überall auf der Welt. Möglicherweise einmalig ist jedoch das Doppelsegel, zumal jedes einzelne einen Gegenstand zeigt.« Die Hände des Greises strichen den Stoff glatt, damit Vitus alle Feinheiten erkennen konnte. Er starrte gebannt auf die gleichgroßen Flächen. »Im linken erkenne ich ein Kreuz, im rechten ein Schwert!«
    »So ist es, aber nun betrachte den Schiffsrumpf: Der Kiel ist halbrund - und verläuft damit genau parallel zur Linie der Erdkugel; so entsteht der Eindruck, als würde das Schiff auf einer Kreisbahn fahren.«
    »Was«, fragte Vitus aufblickend, »könnte das bedeuten?«
    »Darüber habe ich lange nachgedacht. Vorausgesetzt, der Kreis steht tatsächlich für die Kugelform der Welt - du weißt, wie umstritten diese These in der Kirche ist und wie viele Menschen schon dafür in. den Tod gingen -, dies also vorausgesetzt, könnte es bedeuten, dass die Träger des Wappens Seefahrer und Navigatoren waren.«
    Der alte Mann machte eine Pause. »Eindeutiger dagegen erscheint mir die Abbildung von Schwert und Kreuz: Beides ist wohl ein Hinweis auf die Kampfstärke und die Frömmigkeit der Männer.«
    »Glaubt Ihr, Ehrwürdiger Vater, dass dieses Wappen mein Familienwappen ist?«
    »Ach, Vitus.« Der Abt presste die Lippen zusammen.
    »Das Damasttuch allein muss noch nichts heißen. Wer weiß, wem es gehörte. Irgendwer kann dich darin eingewickelt und vor unser Haupttor gelegt haben. Ich weiß nur eines: Das Wappen gehört keinem spanischen Geschlecht.« Er lächelte matt. »Wenn es dein Wappen wäre, würde es bedeuten, dass du nicht

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