Der Wandermoerder
Wirbelsäulenbasis enthält – und den Hüftknochen an seinen Seiten. Die Fugen sind bei Kindern gut zu erkennen, bei Erwachsenen verwachsen sie. Außerdem untersuchte er die faserigen Verbindungsstellen zwischen den letzten paar Wirbeln des Steißbeins, die im Laufe der Jahre ebenfalls verwachsen, sowie die Kiefer und Zähne des Opfers. Die Zähne waren in einem guten Zustand, aber jahrelange Zahnfleischentzündungen hatten zu Knochenverlust rund um die Zahnfächer geführt. Der Knochen der Zahnfächer, normalerweise klar umgrenzt und scharf an den Kanten, hatte sich aufgelöst und sah deformiert aus. All diese altersbedingten Veränderungen sprachen für einen Menschen zwischen 45 und 50 Jahren – nicht zwischen 35 und 45 Jahren, wie Bernard angenommen hatte.
Der nächste Schritt war die Größenbestimmung. Damals war es üblich, die Leiche gerade hinzulegen und vier Zentimeter hinzuzufügen, um den Verlust des Bindegewebes in etwa auszugleichen. Das war Lacassagne aber zu ungenau. Er nutzte stattdessen die neuesten Erkenntnisse der Anthropometrie, die menschliche Körperabmessungen statistisch untersuchte. Forscher hatten versucht, die Körpergröße anhand der Größe einzelner Knochen zu ermitteln, aber niemand hatte gründliche Studien durchgeführt, die genaue Korrelationen geliefert hätten. Das war Lacassagne bekannt, darum hatte er Étienne Rollet beauftragt, eine Doktorarbeit über die Beziehungen zwischen bestimmten Knochen des Skeletts und der Körpergröße zu schreiben. Im Laufe der Jahre beschaffte sich Rollet die Leichen von 50 Männern und 50 Frauen und vermaß mehr als 1500 Knochen bis auf den Millimeter genau. Er konzentrierte sich dabei auf die sechs größten Knochen: die drei Ober- und Unterschenkelknochen (Oberschenkelknochen, Schienbein und Wadenbein) und die drei Knochen des Ober- und Unterarms (Oberarmknochen, Elle und Speiche). Sorgfältig notierte er die Länge der Knochen bei Männern und Frauen – Rechts- und Linkshändern – in unterschiedlichem Alter.
Als er Hunderte von Messergebnissen aufzeichnete und grafisch darstellte, bemerkte er nach und nach eine gewisse Regelmäßigkeit. In einer in puncto Geschlecht, Rasse und Alter gleichförmigen Gruppe bestand zwischen den Knochen des Skeletts und der Körpergröße eine konstante Korrelation. Ein 43,7 Zentimeter langer männlicher Oberschenkelknochen entsprach beispielsweise einer Körpergröße von 1,60 Metern. Wenn der Oberarmknochen 35,2 Zentimeter maß, war der Mann wahrscheinlich 1,80 Meter groß gewesen.
Die Befunde waren so klar und konsistent, dass Rollet daraus ein forensisches Hilfsmittel entwickelte. Er entwarf zwei Tabellen – für Männer und Frauen – mit sechs Spalten für Knochenlängen und einer Spalte für die berechnete Körpergröße. Die Tabelle hatte allerdings nur eine begrenzte Genauigkeit. Die Länge der Oberschenkelknochen stieg zum Beispiel in Sechs-Zentimeter-Schritten, die Körpergröße hingegen in Zwei-Zentimeter-Schritten. Um genauere Ergebnisse zu erhalten, entwickelte Rollet eine einfache Gleichung, deren Lösungen bis auf einen halben Zentimeter zutrafen. Die Methode sah fast zu einfach aus, aber er testete sie an mehreren Leichen, unter anderem an der eines kürzlich hingerichteten Verbrechers, und stellte fest, dass sie ziemlich präzise war.
Lacassagne warf einen Blick auf die Tabelle seines Schülers, während er das Fleisch entfernte, das an den Arm- und Beinknochen geblieben war. Da ihm eine vollständige Leiche mit allen sechs großen Knochen zur Verfügung stand – in anderen Fällen waren es oft nur ein paar Knochen –, konnte er seine Ergebnisse doppelt und dreifach überprüfen. Er berechnete aus den Zahlen den Durchschnitt und schätzte dann die Körpergröße auf 173 Zentimeter. Bernard war auf etwa vier Zentimeter weniger gekommen.
Da Gouffés Familie sich bezüglich der exakten Größe nicht sicher war, telefonierte Inspektor Goron mit dem Schneider des Opfers und mit der Garnison in Paris, wo er nach seiner Einberufung vermessen worden war. Beide stimmten darin überein, dass er 1,73 Meter groß gewesen war. Weitere Messungen und andere Berechnungen verrieten Lacassagne, dass das Opfer etwa 80 Kilogramm gewogen hatte – auch das passte zu Gouffé.
Nun war das Haar an der Reihe. Einer der Hauptgründe dafür, dass Bernard und Gouffés Schwager die Leiche nicht hatten identifizieren können, war die Tatsache, dass Gouffés Haar kastanienbraun und das Haar der Leiche schwarz
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