Der Wandermoerder
war. Lacassagne bat Goron, seine Männer in Gouffés Pariser Wohnung zu schicken, seine Haarbürste zu suchen und sie per Kurier nach Lyon zu schicken. Die Haare an der Bürste waren in der Tat kastanienbraun, wie Gouffés Angehörige ausgesagt hatten. Dann nahm Lacassagne die wenigen schwarzen Haare, die an der Leiche geblieben waren, und wusch sie mehrere Male gründlich. Dadurch löste sich der schmierige schwarze Überzug, der aus verwestem Gewebe bestand – und plötzlich waren die Haare genauso kastanienbraun wie jene an der Bürste. Um sicher zu sein, dass dies die natürliche Haarfarbe war, schickte Lacassagne seinem Kollegen Professor Hugounenq eine Probe. Der Chemiker untersuchte sie auf Haarfärbemittel, fand aber nichts. Dann verglich Lacassagne die Haare von der Bürste mit den Haaren der Leiche unter dem Mikroskop. Alle Haare waren rund 0,13 Millimeter dick.
Das hätte den meisten Medizinern genügt: Alter, Größe, ungefähres Gewicht, Haarfarbe und Zahnmuster des Opfers. Aber für Lacassagne waren das noch nicht genug Details. Einer seiner Grundsätze hieß: »Man muss wissen, wie man richtig zweifelt.« Denn er hatte schon zu oft gesehen, dass selbst Experten Fehler begingen, wenn sie zwar die meisten, aber eben nicht alle Teile eines Puzzles zusammengefügt hatten. Darum machte er weiter.
In der Zeit vor den DNA-Analysen war eine möglichst frische Leiche die beste Voraussetzung für eine Identifikation. Denn eine unverweste Leiche zeigte Gesichtszüge und Merkmale wie Narben und Tätowierungen. Außerdem konnte man Verwandte bitten, die Leiche zu identifizieren – deshalb verfügten die Leichenhallen damals über Räume, in denen die Leichen aufgebahrt werden konnten. Allerdings konnte die Haut, die für die Identifizierung so wichtig war, auch manche Merkmale verbergen. Eine alte Verletzung, zum Beispiel ein Knochenbruch oder eine Verformung, waren nicht mehr zu sehen, wenn die darüberliegende Haut verheilt war. Knochen waren »bessere und dauerhaftere Zeugen« als die Haut, schrieb Lacassagne. Lange nach dem Zerfall des weichen Gewebes sahen die Knochen noch so aus wie im Augenblick des Todes. Da Lacassagne diesmal kaum mehr Material hatte als Knochen und Knorpel, versuchte er, deren Geschichte zu ergründen. Er schabte stundenlang Gewebereste von den Knochen ab, untersuchte die Ansatzpunkte der Bänder, vermaß die Knochengrößen und öffnete die Gelenke. Dabei fielen ihm die rechte Ferse und der rechte Knöchel auf, denn sie waren zwar braun wie die übrigen Knochen, jedoch etwas dunkler. Er schnitt daraufhin die Bänder ab, welche die zwei Knochen zusammenhielten, und untersuchte die Innenflächen des Gelenks. Im Gegensatz zu den sauberen und glatten Flächen eines gesunden Gelenks waren diese Knochenenden »körnig, rau und eingebeult« – ein Hinweis auf eine alte Verletzung, die nicht richtig verheilt war. Der Knöchel konnte sich im Gelenk nicht sehr gut bewegt haben. Das Opfer hatte also wahrscheinlich gehinkt.
Danach wandte Lacassagne sich dem Fuß zu und untersuchte das Gelenk zwischen dem Knochen der großen Zehe und dem Mittelfußknochen. Das Ende des Mittelfußknochens hatte einen knochigen Grat, der sich über das Gelenk hinaus bis in den Zehenknochen erstreckte. Das Opfer war also nicht in der Lage gewesen, die rechte große Zehe zu beugen. Lacassagne vermutete, dass das Opfer an Gicht gelitten hatte, also an einer Krankheit, bei der die Fähigkeit, Harnsäure abzubauen, verloren geht. Mit der Zeit sammelt diese Substanz sich in Form von Kristallen in den Gelenken an, vor allem in den großen Zehen. In fortgeschrittenem Stadium bildet sich an den Knochenenden eine Kalkablagerung, die manchmal so dick ist, dass das Gelenk schmerzt und unbeweglich ist.
Nun arbeitete sich Lacassagne am rechten Unterschenkel nach oben. Das rechte Wadenbein sah dünner aus als das linke. Das bedeutete, dass der Muskel schwächer gewesen war, denn ohne den Zug und Druck der Muskeln verlieren Knochen an Masse. Die rechte Kniescheibe war kleiner und runder als die linke, und an ihrer Innenseite waren mehrere kleine, knochige Vorsprünge zu sehen. Keines dieser Merkmale war zuvor aufgefallen, weil die erste Untersuchung drei Wochen nach dem Tod erfolgt war. Damals waren beide Beine möglicherweise von Gasen aufgedunsen. Erst jetzt, nachdem Haut und Muskeln verwest waren, enthüllten sich diese Aspekte der Krankengeschichte.
Um seine Befunde zu bestätigen, bat Lacassagne den Chefchirurgen der
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