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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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überein, dass wir zumindest in gutem Glauben gehandelt haben, selbst wenn wir uns geirrt haben sollten. Jetzt ist es vorbei. Wir legen die Feder beiseite und verlassen diese lange Arbeit wie einen Albtraum, also entmutigt und erschöpft.«
    Es war eine lange Reise gewesen, nicht nur für Lacassagne, sondern auch für seine Wissenschaft. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sein Beruf dunkle Zeiten durchgemacht. Menschen waren aufgrund von Gerüchten oder durch Folter erzwungenen Geständnissen auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Nach und nach hatten Wissenschaftler dann begonnen, Beweise zu prüfen. Und nun war das goldene Zeitalter der Forensik angebrochen. Die Wissenschaft war zu einem Teil der Polizeiarbeit geworden und wurde nicht nur genutzt, um das Wer, Wann und Wie eines Verbrechens zu klären, sondern auch, um den Geisteszustand eines Verbrechers zu erforschen, und zwar auf Grundlage der Tatortanalyse. Vor einer Generation wäre das noch undenkbar gewesen. Dank der Zusammenarbeit zwischen der Wissenschaft und der Justiz war die Welt gerechter geworden. Doch selbst die Besten und Klügsten in dieser Disziplin zweifelten bisweilen daran, dass ihre Entscheidungen moralisch richtig waren. Das räumte auch Lacassagne ein.
    Monate später, als die Debatte abgeflaut war, schrieb Émile Gautier in einem Buch mit dem Titel Das Jahr in der Wissenschaft und in der Industrie eine Abhandlung über Vacher, die den Fall aus philosophischer Sicht beleuchtete: »Eines ist klar: dass selbst die ausgeklügeltste Wissenschaft es nicht vermag, die Mysterien des menschlichen Geistes zu entschleiern. Er lässt sich nicht mathematisch erklären, auch nicht anhand seiner chemischen Zusammensetzung oder seiner molekularen Struktur. Und vielleicht schlummern dort, in den Regionen, die unseren schärfsten Sinnen, besten Instrumenten und subtilsten Verfahren immer noch unzugänglich sind, die Geheimnisse der Seele [eines Mörders].«

Dreiundzwanzig
Postskriptum
    Mit der Zeit vergaß die Öffentlichkeit den Fall Vacher. Im Gegensatz zu den Gräueltaten Jack the Rippers war Vachers Mordserie aufgeklärt worden, daher beunruhigten die Taten die Menschen nicht weiter. Außerdem gab es immer wieder neue Morde und Skandale, über die die Skandalblätter berichten konnten.
    Da die Landstreicherei in Frankreich und in weiten Teilen Europas immer noch ein Problem darstellte, nutzten einige Politiker den Fall Vacher, um die Öffentlichkeit gegen Vagabunden aufzuhetzen und immer härtere Zwangsmaßnahmen zu ergreifen. Weitere »Armenhäuser« wurden eröffnet und mehr Landstreicher auf die Teufelsinsel ins Exil geschickt. Aber nichts konnte ihre Zahl verringern, bis im Ersten Weltkrieg Millionen Menschen als Kanonenfutter geopfert wurden. Nach dem Krieg begannen die Menschen dann, anders über Vagabunden und Arme zu denken. Sie waren nicht mehr »die anderen«, die ihre Situation ihren eigenen moralischen oder genetischen Fehlern zu verdanken hatten. Stattdessen waren sie nun Mitbürger, die das Glück verlassen hatte. Anstatt Strafen zu verhängen, bemühten sich mehrere europäische Länder, den Unglücklichen mit Sozialprogrammen wieder auf die Beine zu helfen. Mitte der 1920er-Jahre waren in Europa fast 40 Millionen Menschen gegen Arbeitslosigkeit versichert, was die Zahl der Landstreicher erheblich verringerte. Nach der Weltwirtschaftskrise legten auch die USA ähnliche Sozialprogramme auf.
    Die Teufelsinsel, auf die man viele Landstreicher und Verbrecher abgeschoben hatte, nahm ab 1938 keine neuen Gefangenen mehr auf und wurde 1952 geschlossen. Die ehemalige Strafkolonie wurde in der Folgezeit zu einer Touristenattraktion. Jahre später, im Weltraumzeitalter, baute die französische Regierung auf der Insel eine Raketenabschussanlage, die sie mit der Europäischen Weltraumbehörde teilt. Dank ihrer Nähe zum Äquator ist die Insel ein idealer Ort, um Satelliten in eine geosynchrone Umlaufbahn zu schießen.
    Die Guillotine, die schon zu Vachers Zeit immer seltener zum Einsatz gekommen war, geriet weiter in die Kritik, nur während der Naziherrschaft wurde sie wieder häufiger benutzt. Die letzte öffentliche Hinrichtung in Frankreich fand 1939 in Paris statt. Exekutiert wurde der Mörder Eugène Weidman. Danach fanden Hinrichtungen nur mehr in den Gefängnissen statt. Und im Jahr 1981 schaffte Frankreich die Todesstrafe ab. Die Nervenheilanstalten Dole und Saint-Robert sind heute saubere, moderne und menschliche Einrichtungen. Sie werden

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