Der Wandermoerder
eigentlich verdient hätte. Zwar priesen ihn die Zeitungen und die Menschen, die zu Unrecht beschuldigt worden waren, dankten ihm überschwänglich, doch innerhalb der Justizbürokratie wurde er nie befördert – vielleicht weil er die Grenzen seiner örtlichen Zuständigkeit überschritten hatte, weil seine Fantasie die seiner Kollegen in den Schatten stellte oder weil er diesen andere Kränkungen zugefügt hatte. Wie dem auch sei, er wurde in den folgenden Jahren von einem Provinznest in das nächste versetzt. Da er nicht befördert wurde, gab er schließlich 1913 seine juristische Laufbahn entmutigt auf. Er schrieb auch ein Buch über den Fall, in dem er seine Enttäuschung gestand. »Die Öffentlichkeit und die Presse … fordern für den Untersuchungsrichter, der den Fall Vacher löste, die Ehrenlegion und eine Beförderung seiner Wahl«, schrieb er über sich in der dritten Person. »Am Ende bekam er nichts.« Zum Gedenken an seine Leistungen wurde immerhin an einem der Gerichtssäle in Belley sein Name auf einem Messingschild angebracht.
Lacassagnes Ruhm wuchs von Jahr zu Jahr. Er arbeitete an vielen bekannten Fällen mit, unter anderem am Fall Luigi Richetto, der ältere Damen mit chirurgischer Präzision köpfte, am Fall Henri Vidal, des berüchtigten Frauenmörders, der vier Frauen tötete, und am Fall Bladier Reidal aus Lyon, der einen Bekannten sadistisch ermordete. Lacassagne entschied diesmal, dass Reidal schuldunfähig war. Er setzte seine Studien über die Kultur der Verbrecher und die Ursachen der Kriminalität fort und stellte zum Beispiel fest, dass die Kinder von Alkoholikern oft mit psychischen Störungen geboren wurden – dieses Phänomen wurde später fetales Alkoholsyndrom genannt. Er wurde zum Offizier der Ehrenlegion und zum Mitglied der medizinischen Akademie ernannt und wurde Präsident vieler wissenschaftlicher und gemeinnütziger Organisationen.
Der einzige schwerwiegende Irrtum seiner Karriere unterlief ihm im Fall der Jeanne Weber, die 1905 anfing, kleine Kinder zu ersticken, die Verwandte und Freunde ihrer Obhut überlassen hatten. Die genaue Zahl der Opfer ließ sich später nicht feststellen. Die Polizei nahm sie 1906 fest, nachdem das vierte Kind, das sie beaufsichtigt hatte, tot aufgefunden worden war. Da die Ärzte Tod durch Ersticken diagnostizierten, wurde sie des Mordes beschuldigt. Während sich Henri Robert, der schillernde Anwalt, der Bompbard verteidigt hatte, auf den Prozess vorbereitete, verlangte er ein zweites medizinisches Gutachten. Das Gericht beauftragte Paul Brouardel und seinen brillanten jungen Kollegen Léon Thoinot damit. Beide kamen zu der Überzeugung, dass die Beweise nicht ausreichten, um einen Mord nachzuweisen, woraufhin das Gericht die Angeklagte freisprach.
Im folgenden Jahr wurde erneut einer ihrer Schützlinge tot aufgefunden. Diesmal trat Lacassagne für sie ein und erklärte in einem Bericht, dass sich immer noch kein Mord beweisen lasse. Bald nach ihrer Freilassung tötete sie wieder. Erst 1908, als sie dabei ertappt wurde, wie sie ein weiteres Kind ersticken wollte, war ihre Schuld eindeutig bewiesen, was zu einer Verurteilung und Einweisung in eine Heilanstalt führte. 22 »Die Geschichte erinnert uns immer an unsere Grenzen, wann immer wir Gefahr laufen, sie zu vergessen«, sagte Lacassagne.
Im Jahr 1914 zog sich Lacassagne im Alter von 70 Jahren offiziell aus dem Geschehen zurück, blieb aber weiter so aktiv wie viele junge Ärzte. Im Ersten Weltkrieg versorgte er Verwundete im größten Krankenhaus von Lyon, während seine Söhne an der Front als Sanitäter dienten. 1921 stiftete er seine persönliche Bibliothek mit mehr als 12.000 teils äußerst wertvollen Büchern und Dokumenten der Stadtbibliothek Lyon. Im Alter von 74 Jahren verfasste er, körperlich und geistig immer noch vital, ein Buch mit dem Titel La Verte Vieillesse (Das grüne Alter) über die Physiologie des Alterns und das würdevolle Altern. »Alte Menschen«, schrieb er, »müssen wie alle anderen Geschöpfe aktiv bleiben … Sie sollten das Leben lieben und sich nicht vor dem Tod fürchten.« Er war mit Sicherheit eine Verkörperung dieser Philosophie, stand er doch jeden Morgen um fünf Uhr auf und verbrachte mehrere Stunden mit Lesen und Schreiben. Dann brach er zu seinem obligatorischen forschen Spaziergang am Ufer der Rhone auf. Hin und wieder blieb er stehen und plauderte mit ehemaligen Kollegen und Freunden, die entzückt waren, ein paar Worte mit dem Meister
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