Der Wandermoerder
nicht mehr Heilanstalten genannt, sondern »spezialisierte Klinikzentren«. Das Gefängnis Saint-Paul in Lyon, wo Lacassagne monatelang Vacher befragte, wurde im Jahr 2009 durch einen Neubau ersetzt.
Nach dem Fall Vacher empfahl Lacassagne der Regierung, eine Behörde einzurichten, die Informationen über ungeklärte Verbrechen im ganzen Land sammeln sollte, denn ohne Fourquets Datensammlung und Analyse wäre Vachers Mordserie wahrscheinlich nie ans Tageslicht gekommen. Im Jahr 1923 gründeten Polizeibehörden aus 20 Ländern in Wien eine Organisation, die solche Informationen austauschte: die Internationale Polizeikommission. Sie blieb während der Nazizeit untätig, lebte jedoch nach dem Krieg in Paris unter neuem Namen wieder auf: Interpol. Im Jahr 1989 verlegte die Organisation ihre Zentrale nach Lyon.
Lombroso setzte seine erfolgreiche Karriere noch lange nach dem Fall Vacher fort. Er blieb bei seiner Theorie vom geborenen Verbrecher, obwohl er im Laufe der Jahre soziologische Faktoren hinzufügte, die ihn Lacassagnes Auffassung näherbrachten. Er versuchte auch, seine Theorien über die Kriminologie hinaus in die Bereiche der Kunst und Literatur zu erweitern, wo er viele Beispiele für geborene Verbrecher zu finden glaubte. Im Jahr 1897 reiste er daher in das Dorf Tolstois, um dem großen Dichter seine Theorien zu erläutern. Er ging davon aus, dass dieser sie unterstützen würde, doch er täuschte sich. »Er zog seine schrecklichen Augenbrauen zusammen«, schrieb Lombroso, »und rief: ›Das ist alles Unsinn!‹« Auch später konnte sich Tolstoi nicht für Lombrosos Ideen erwärmen. Im Jahr 1900 bezeichnete er sie als »absoluten Tiefpunkt des Denkens, des Vorstellungsvermögens und der Vernunft«. Zola hatte ebenfalls wenig für Lombrosos Theorien übrig und erklärte, der Gelehrte sammle Beweise »wie alle Leute mit vorgefassten Ideen«. Lombroso hatte in der Tat sehr selektive Statistiken erstellt, und nach seinem Tod wurden sie durch umfangreiche, streng wissenschaftliche Studien widerlegt.
Als Lombroso 1909 starb, fand Lacassagne freundliche Worte für seinen intellektuellen Gegner und nannte ihn einen »Agitator der Ideen und provozierenden Denker … [Sein] inniger Wunsch, Antworten auf neue Fragen zu finden, inspirierte seine Studenten.« Diesen Studenten stiftete Lombroso auch seine Leiche. Sie obduzierten daher ihren Professor und stellten die Überreste in seinem Kriminalmuseum aus.
Bertillon erholte sich von seinem peinlichen Schnitzer im Fall Dreyfus und setzte seine Arbeit fort. In Frankreich und mehreren anderen Ländern wurde er dafür ausgezeichnet. Er erweiterte sein Identifikationssystem noch um die Form des Ohres, die seiner Meinung nach ebenso einzigartig war wie das Muster der Iris. Insofern nahm er die Biometrie um ein Jahrhundert vorweg. Anfang des 20. Jahrhunderts ersetzten die meisten Länder die Bertillonage durch Fingerabdrücke, deren Abnahme keine präzisen Messinstrumente und ausgebildeten Techniker benötigte. Bertillon erkannte die Bedeutung der Fingerabdrücke und nahm auch sie auf seine Karten auf, dennoch verteidigte er seine alte Methode vehement. Berlin, Wien, Budapest, Rom, Paris und einige andere Großstädte versuchten eine Zeit lang, beide Systeme gleichzeitig zu verwenden, doch die Kosten für das Personal und die Ausrüstung waren letztlich zu hoch. Deshalb setzten sich die Fingerabdrücke schnell durch.
Die Grenzen des Bertillon-Systems wurden deutlich, als ein Arbeiter im Jahr 1911 im Louvre die Mona Lisa stahl. Der Dieb, Vincenzo Perugia, war bei der Pariser Polizei aktenkundig, seine Fingerabdrücke und die Bertillon-Maße lagen vor. Leider waren die Akten nur nach ihren Bertillon-Zahlen geordnet, sodass die Polizei die Fingerabdrücke auf dem leeren Rahmen keiner ihrer Akten zuordnen konnte. Das Gemälde blieb zwei Jahre vermisst, bis Perugia versuchte, es in Florenz zu verkaufen, und dabei gefasst wurde. Wäre seine Akte anhand der Fingerabdrücke auffindbar gewesen, hätte die Pariser Polizei ihn innerhalb einer halben Stunde identifiziert. Dieser Fall enthüllte die große Schwäche des alten Systems: Während die Bertillon-Maße nur an einem Körper abgenommen werden konnten, waren Fingerabdrücke auch am Tatort zu finden.
Bertillon vermachte sein Gehirn der Mutual Autopsy Society. Als er im Alter von 51 Jahren starb, sezierte Manouvrier daher sein Gehirn, bevor der Leichnam beerdigt wurde.
Émile Fourquet erhielt nie die Anerkennung, die er
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