Der Wandermoerder
kümmerten daher bis zum Ersten Weltkrieg vor sich hin, dann löste sich das intellektuelle Leben in Europa im Chaos auf.
Aber die Konferenzen waren nicht das einzige Schlachtfeld der Ideen. Jedes Mal, wenn ein Verbrechen Aufsehen erregte, begann der Streit in der Presse von Neuem. Während des Falles Gouffé schickte ein Korrespondent der Zeitung Le Gaulois Lombroso im Dezember 1890 eine Akte mit Fotos und der Handschrift des Beschuldigten. Der Fall fand großes Interesse in der Öffentlichkeit. Gabrielle Bompard hatte sich als Opfer eines Melodramas dargestellt, als Geisel ihres willensstarken Gefährten Michel Eyraud. Während ihrer Verhöre wunderten sich die Polizisten jedoch über ihre Kaltblütigkeit, ihr Selbstmitleid und ihre unangemessene Koketterie. Sie glaubten keine Minute lang an ihre Opferrolle. Aber sie hatte etwas an sich, das die Öffentlichkeit faszinierte. Als die Polizei sie im Zug nach Lyon brachte, damit sie ihr zeigen konnte, wo sie sich der Leiche entledigt hatte, jubelten zahlreiche Anhänger ihr auf dem Bahnhof zu. »Seht mal, so viele Leute«, rief sie aus. »Selbst die Königin von England wäre nicht so begrüßt worden!«
Lombroso prüfte die Informationen, die er vom Gaulois bekommen hatte, und behauptete, Michel Eyraud habe zwar den Mord begangen, aber die wahre geborene Mörderin sei die Frau. Eyraud habe schlimmstenfalls die Gesichtszüge eines Hochstaplers. Gewiss, er besitze mehrere »degenerative« Merkmale – große Ohren, ein unsymmetrisches Gesicht und dicke, sinnliche Lippen (besonders die untere) –, doch keines dieser Kennzeichen sei besonders ausgeprägt. »Ihm fehlen die Züge, die meiner Meinung nach für Kriminelle typisch sind«, schrieb Lombroso. »Ich bin fest davon überzeugt, dass er ohne Bompard nur ein einfacher Gauner wäre.« Ganz anders verhalte es sich jedoch mit Bompard. Ihr dickes Kraushaar, der große Unterkiefer, das unsymmetrische Gesicht und die eher »mongolische« Gesichtsform seien typisch für eine geborene Verbrecherin. Ihre bekannte Sinnlichkeit und ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer entlarve sie als den Typus, dem ein Mord »sehr leicht« falle, meinte Lombroso. Ihre Bereitschaft, ihren Komplizen zu verraten und das Opfer zu spielen, sei eine Verhaltensweise des geborenen Verbrechers, denn sie spreche für den Überlebensinstinkt einer Ratte. Lombroso empfahl nicht, die Urteile umzukehren – Eyrauds Todesurteil und Bompards zwanzigjährige Gefängnisstrafe. Er wollte nur aufzeigen, dass Bombard trotz der Sympathie, die sie in der Öffentlichkeit genoss, »biologisch gesehen«, krimineller war als Eyraud.
Lacassagne veröffentlichte Lombrosos Analyse ohne Kommentar im Journal of Criminal Anthropology . Vielleicht hielt er es nicht für notwendig, eine bereits im Niedergang befindliche Pseudowissenschaft zu kritisieren.
Im Jahr 1896, sieben Jahre nach dem Wirbel um den Schädel von Charlotte Corday, machte ein Pariser Arzt namens Augustin Cabanès eine erstaunliche Entdeckung. Er hatte sich gefragt, wo dieser Schädel herkam. Wie war er vom Friedhof Madeleine in Paris, wo er 1793 begraben worden war, fast ein Jahrhundert später in Prinz Rolands Sammlung gelangt? Der Prinz gab an, dass ein Freund namens George Duruy ihm den Schädel gegeben habe, nachdem er von seinem Interesse an der Anthropologie erfahren hatte. Von Duruy erfuhr Cabanès, er habe den Schädel von einer Verwandten, Madame Rousselin de Saint-Albin. Sie habe ihn wiederum von ihrem Mann geerbt, der ihn von einem Kuriositätenhändler gekauft habe. Cabanès fand den Händler, der erklärte, dass er den Schädel aus dem Nachlass des Barons Dominique Denon erworben habe. Denon war ein angesehener Gelehrter, Sammler und Freund Napoleons. Cabanès besorgte sich daraufhin die Auflistung des Denon-Nachlasses, in der jedoch der Schädel nicht erwähnt war, während andere interessante Relikte durchaus aufgezählt waren, darunter Knochenfragmente von El Cid, Héloïse und Abelard und Molière, ein Haarbüschel vom Bart König Heinrichs IV. von Frankreich, ein Stück vom Turiner Leichentuch und ein halber Zahn aus dem Mund Voltaires. Doch von Corday war nicht die Rede. Cabanès wusste, dass es während der französischen Schreckensherrschaft einen lebhaften Handel mit Körperteilen hingerichteter Adliger gegeben hatte und dass die Familie von Cordays Henker Charles-Henri Sanson plötzlich reich geworden war. Allerdings gab es keine Beweise dafür, dass Sanson oder
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