Der Wandermoerder
bewiesen und wissenschaftlich unhaltbar. Zudem finde er Lombrosos Auffassung durch und durch entmutigend. Sobald ein Mensch als atavistisch gebrandmarkt sei, sagte er, »wird dieses Etikett eine Art dauerhafte Narbe, eine Ursünde … gegen die man nichts tun kann«. Außerdem spreche diese Theorie die niedersten Instinkte der Gesetzgeber an. »Gelehrte können vermessen und Winkel bestimmen, aber die Gesetzgeber würden nur die Arme verschränken oder Gefängnisse und Heilanstalten bauen, um diese missratenen Geschöpfe einzusperren.« Lacassagne benutzte Pasteurs Arbeit als Metapher, so wie Lombroso Darwins Theorie benutzt hatte, und bezeichnete die Neigung zum Verbrechen als Keim, der sich nur in einem geeigneten Milieu vermehren könne. »Das soziale Milieu ist der Nährboden der Kriminalität. Der [geborene] Verbrecher ist unauffällig, bis er den Nährboden findet, auf dem er gedeihen kann.«
Die Italiener waren schockiert, denn sie hatten nur die höfliche Kollegialität erwartet, die bei wissenschaftlichen Tagungen üblich war. Lombrosos Kollege Giulio Fioretti war daher »äußerst überrascht« von Lacassagnes »heftiger« und »ungerechter« Kritik. »Der kriminelle Typ ist eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache«, behauptete er. »Weitere Diskussionen erübrigen sich.« Lombroso beklagte die »Geringschätzung« seines französischen Kollegen für seine Theorie, und sein Schüler Garofalo meinte, wenn das soziale Milieu die Ursache des Verbrechens sei, »wären wir alle kriminell«.
Er bedauere es, wenn seine Ausführungen falsch verstanden worden seien, versicherte Lacassagne daraufhin. »Ich will keinen Mann angreifen, vor dem ich größten Respekt habe.« Aber für ihn sei klar, dass soziale Faktoren die größere Rolle spielten, selbst wenn es gewisse biologische Einflüsse gebe. Und wenn behauptet werde, er habe die italienische Schule der Kriminalanthropologie beleidigt, müsse er darauf bestehen, »dass es keine Schulen gibt – es gibt nur die Wahrheit«.
Wenn die Konferenz in Rom die Fronten geklärt hatte, dann schürte die Tagung in Paris den Konflikt. Für die wissenschaftliche Presse war sie ein »Duell« zwischen Lombroso und Lacassagnes Kollegen Léonce Manouvrier. Dieser vertrat die Meinung, Lombrosos krimineller Typ sei nichts weiter als ein »Harlekin«, auf den man die Fehler der Gesellschaft abwälze. Er kritisierte Lombrosos selektive Auswahl statistischer Daten und verglich seine Arbeit mit Galls entlarvter Phrenologie. Der französische Anthropologe Paul Topinard bezweifelte, dass die mittlere Schädelgrube, Lombrosos Schlüssel zur Kriminalität, überhaupt eine anatomische Bedeutung habe. Während des Besuchs in der Nervenklinik Sainte-Anne stellte es der Chefarzt Magnan infrage, dass Lombroso Anzeichen für Atavismus bei jungen Tätern erkennen könne. Nach Lacassagnes Ansicht sahen Verbrecher nur missgestaltet aus, weil sie »Not und Entbehrung erlitten« hatten. Lombroso und seine Anhänger verteidigten sich unbeholfen, vielleicht weil ihre Statistiken selektiv und schwer zu belegen waren. Schließlich vereinbarten beide Seiten, eine internationale Kommission zu gründen, die 100 Kriminelle und 100 ehrliche Männer untersuchen und ihren Bericht beim nächsten Kongress vorlegen sollte.
Die Kommission erfüllte ihre Aufgabe jedoch nicht. Sie empfand es als unmöglich, eine Studie durchzuführen, die Zusammenhänge zwischen Körpermaßen und der Kriminalität untersuchen sollte, ohne dabei auch Variablen wie ethnische Herkunft, psychische Verfassung und Ernährung zu berücksichtigen. Für Lombroso war dies ein Affront. Er und die italienische Delegation boykottierten daraufhin 1892 die Konferenz in Brüssel und behaupteten, es fehle an »ausreichend belegten Tatsachen«. 1896 meldeten sie sich dann lautstark in Genf zurück. »Man sagt, ich sei tot und begraben«, erklärte Lombroso. »Sehe ich etwa so aus?« Ein französischer Beobachter, der die Ausführungen Lombrosos und seines Schülers Enrico Ferri verfolgte, verglich die beiden mit Don Quixote und Sancho Panza, die verzweifelt gegen die soziale Theorie kämpften. Auf der Konferenz in Turin im Jahr 1906 erlebte Lombroso erneut starke Aufmerksamkeit, aber hauptsächlich deswegen, weil seine wissenschaftliche Karriere vor 50 Jahren begonnen hatte. Von da an ging es auf den Konferenzen allerdings ruhiger zu. Jede Schule hatte ihre eigenen Theorien, und jedes Land ging mit Verbrechern auf seine Art um. Die Konferenzen
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