Der Wandermoerder
die jungen Opfer seiner Gräueltaten oder für die trauernden Hinterbliebenen. Er betete nicht für die fälschlich Beschuldigten, die ein Leben lang gezeichnet waren, oder für die Dorfbewohner, die sich nicht mehr sicher fühlten und deren Zusammenhalt erschüttert war. Nein, er war gekommen, um seine Dankbarkeit zu bezeugen und um zu feiern. Er wollte für die Gaben danken, die er empfangen hatte, und für den Schutz, der ihm zuteilgeworden war.
Es war eine lange, gewundene Pilgerreise gewesen. Er war mindestens 2200 Kilometer kreuz und quer durch Frankreich gewandert, von Nordwesten nach Südosten. Und im September hatte er erneut getötet – diesmal in Allier, einer Region nordwestlich von Lyon. Marie Moussier, eine frisch verheiratete Neunzehnjährige, war das Opfer gewesen. Ihre Nase war derart durch Bisswunden verunstaltet, wie es der Gerichtsmediziner nie zuvor gesehen hatte.
Und immer noch fühlte Vacher sich behütet. Einige Wochen nach dem Mord an Marie wanderte er bei dichtem Nebel durch die Haute-Loire, etwa 140 Kilometer südlich von Allier, als er Alphonse Rodier begegnete, einem dreizehnjährigen Hirten. Er wollte sich gerade auf den Jungen stürzen, als ihn das Gefühl überkam, dass noch jemand in der Nähe war. Also zog er sich zurück. Einige Tage später traf er, immer noch bei dichtem Nebel, Alphonses vierzehnjährige Schwester Rosine, und diesmal gab es keine Zeugen.
Nach dem erneuten Mord wurde der Nebel so dicht, dass Vacher nur noch ein paar Meter weit sehen konnte. Er fürchtete bereits, nicht fliehen zu können, aber dann erhielt er wieder einmal Hilfe von oben. »Plötzlich fand ich den Weg, den ich kannte; dann nahm ich einen Pfad zur Bahnlinie, der ich vor der Tat gefolgt war«, erinnerte er sich später. Nach wenigen Stunden hatte er den Bezirk verlassen. »Ich glaube, an diesem Tag hat Gott mich wirklich gerettet.«
Vacher blieb nach wie vor von Louise Barant besessen und schwor ihr in Briefen ewige Liebe. Louise wollte jedoch nichts von ihm wissen. Von seinem Überfall traumatisiert, harrte sie in ihrem Dorf aus, in dem jeder den Täter erkannt hätte. Wegen der Wunden in ihrer Zunge und an ihren Lippen litt sie nun an einer Sprechstörung, die ihr überaus peinlich war. Da sie nicht arbeiten konnte, war sie für ihren alternden Vater und ihre Familie eine finanzielle Belastung, aber ihre Angehörigen hielten dennoch zu ihr. Um seine Tochter zu schützen, fing ihr Vater Vachers Briefe ab und verbrannte die meisten von ihnen. Einen bewahrte er jedoch auf und legte ihn später den Ermittlern vor:
Liebe Louise,
ich weiß nicht, ob du noch im Dorf deiner Eltern wohnst, und ich habe keine Nachrichten von deinen lieben Eltern. Aber meine alten Freunde Herr und Frau Genin hören manchmal von ihnen, und darum wage ich es, dir einen Brief durch ihre Hände zu schicken …
Als Folge unseres unglückseligen Dramas leide ich immer noch an einer leichten Lähmung in meiner rechten Wange. Aber sie macht sich nur bemerkbar, wenn ich spreche und bestimmte Silben ausspreche. Ansonsten fällt in meinem Gesicht nichts auf.
Falls du dieses Versöhnungsangebot nicht annimmst, bitte ich dich aus Respekt vor all dem Blut, das so tapfer und reichlich für dich vergossen wurde, nichts Böses über mich zu sagen. Wenn du das tust, fällt es nur auf dich zurück. Wenn wir unsere Vergangenheit neu bewerten, Buße tun und ein neues, gutes Leben beginnen wollen, ist es wichtig, dass niemand außer uns beiden und deinen Eltern weiß, was geschehen ist …
Wir sollten begreifen, dass es zu unserem Vorteil ist, wenn Gott uns in unserer Jugend prüfen wollte, und darum sollten wir Mut fassen …
Nun erlaube mir: Louise, O! Louise, dir eine einzige Frage zu stellen: Habe ich dich für immer und ewig verloren? Bitte antworte mir, und sei es nur mit einem kurzen Brief. Nur dann werde ich imstande sein, dich zu vergessen …
Vacher Jh
Die majestätischen Pyrenäen, die sich hinter Lourdes erhoben, waren jetzt mit Schnee bedeckt. Vacher hatte die Menschenmassen und das Chaos satt und hörte wieder einmal den Ruf der Berge. Er beschloss daher, seine eigene Pilgerstätte zu suchen, höher als die Kirchtürme und heiliger als die Grotte. Er wartete einige Tage auf milderes Wetter, dann stieg er auf einen Berggipfel. Dort schrieb er in ein frisches Schneefeld: »Oh! Jungfrau Maria, Mutter im Himmel, wache über sie, so wie du über mich wachst. Und bringe sie mit all deiner göttlichen Macht eines Tages zu mir
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