Der Wandermoerder
Lombrosos Vorstellung bevölkerten die Literatur. Die Hauptcharaktere in Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886) symbolisieren den Kontrast zwischen dem zivilisierten und atavistischen Menschen, und das im selben Körper. Zolas Die Bestie im Menschen übernimmt viele Gedanken Lombrosos, obwohl Zola dessen Philosophie ablehnte. Und Bram Stokers Roman Dracula (1897) stützt sich stark auf Lombrosos Thesen. Einmal bittet van Helsing, der fiktive niederländische Professor, der Graf Dracula verfolgt, die Heldin des Buches, Mina Harker, den Bösewicht zu beschreiben.
»Der Graf ist ein Verbrecher und der Typ eines Verbrechers«, sagt sie. »Nordau und Lombroso würden ihn so klassifizieren.« In einer kommentierten Version des Romans aus dem Jahr 1975 stellte der Gelehrte Leonard Wolf die Beschreibung, die Mina Harker von Dracula gibt, Lombrosos Darstellung des Verbrechers gegenüber:
Harker: »Sein Gesicht war … adlerähnlich, und die dünne Nase hatte einen hohen Rücken und eigentümlich gebogene Nasenlöcher.«
Lombroso: »Die Nase [des Verbrechers] hingegen … ist oft wie der Schnabel eines Raubvogels gebogen.«
Harker: »Seine Augenbrauen waren sehr dick und trafen sich beinahe über der Nase.«
Lombroso: »Die Augenbrauen sind buschig und begegnen sich oft über der Nase.«
Harker: »… seine Ohren waren blass und oben extrem spitz.«
Lombroso: »… mit einem Vorsprung am oberen Teil des hinteren Randes … ein Relikt des spitzen Ohres.«
Im Jahr 1885 erreichte Lombrosos Einfluss seinen Höhepunkt, als er und seine Anhänger in Rom den ersten internationalen Kongress für Kriminalanthropologie veranstalteten. Sie schlugen vor, alle vier Jahre in einer anderen europäischen Stadt ein solches Treffen stattfinden zu lassen. Die erste Konferenz wurde vom 17. bis 23. November im Palazzo delle Belle Arti abgehalten und »eröffnete eine neue Epoche in der Geschichte des Verbrechens«, wie ein Beobachter der Smithsonian Institution bemerkte. »Man regte an, das Verbrechen wissenschaftlich, biologisch, fundamental zu untersuchen, seine Ursprünge und Ursachen zu erforschen.« Die große Halle im Palazzo war mit anschaulichen und beängstigenden Ausstellungsstücken vollgestopft und für Frauen und Kinder gesperrt. Hunderte von Schädeln lagen auf Tischen, neben ihnen Körperteile von Verbrechern, Epileptikern, Prostituierten, Geisteskranken und anderen als unerwünscht geltenden Menschen. Forscher zeigten Gehirne, die in Alkohol, als Gipsabdruck oder nach einem neuen Verfahren in Gelatine konserviert waren. Die Exponate in Gelatine konnten, in dünne Scheiben geschnitten, unter dem Mikroskop untersucht werden. Die Gefängnisärzte aus Genua stellten die Körperteile des Räubers und Mörders Giona La Gala aus: eine bronzene Totenmaske seines Gesichts, einen Gipsabdruck seines Schädels und einige Objekte, die im Rahmen der Autopsie in mit Alkohol gefüllte Gläser gesteckt worden waren, wie sein Gehirn sowie Tätowierungen und Gallensteine.
Auch Lombroso brachte eine eindrucksvolle Sammlung mit. Er zeigte 70 Schädel von italienischen Kriminellen, 30 Schädel von Epileptikern und das ganze Skelett eines Diebes mit einem zu kleinen Kopf auf einem stämmigen Körper. Außerdem noch Gipsabdrücke von den Köpfen zweier Verbrecher, 300 Fotos von Epileptikern, weitere 300 Fotos von deutschen Kriminellen, 24 lebensgroße Zeichnungen von Verbrechern, Schriftproben und Hautstücke mit Tätowierungen. Das alles sollte belegen, dass der Verbrecher einem bestimmten Typus entsprach.
Lacassange hingegen präsentierte weder Schädel noch Skelette. Er beschränkte sich auf 26 Karten und Schaubilder mit Farbkodierung. Sie gaben Auskunft über die Verbrechensraten in verschiedenen Teilen Frankreichs, die Zahl der eigentums- und personenbezogenen Straftaten sowie ihre Korrelation mit der Jahreszeit, dem Alkoholkonsum und dem Getreidepreis. Damit wollte er zeigen, dass Kriminalität kein biologisches Phänomen war, sondern mit dem gesellschaftlichen Milieu zusammenhing. Außerdem stellte er rund 2000 Tätowierungen aus – manche auf konservierter Haut, die meisten jedoch auf Stoff übertragen –, nicht um eine biologische Tendenz zu belegen, sondern um die kriminelle Kultur zu illustrieren.
Am Anfang seiner Karriere hatte Lacassagne Lombrosos Ansichten »mit Begeisterung« übernommen. Er besuchte Lombroso sogar 1880, ließ sich fasziniert seine Atavismustheorie erläutern und richtete sich, was seine eigenen Forschungen
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