Der Wandermoerder
anbelangte, nach Lombrosos Ratschlägen. Beispielsweise vermaß er die Arme von 800 Verbrechern und stellte fest, dass sie ähnlich lang waren wie die Arme von Affen. »Vom Standpunkt der Kriminalanthropologie aus können wir sagen, dass Kriminelle hinsichtlich ihrer Armlänge den primitiven Rassen gleichen«, berichtete er. »Diese Beobachtung ist ein weiterer Beitrag zur Theorie unseres Freundes Lombroso.«
Doch Lacassagne hatte immer schon ein zwiespältiges Verhältnis zu Lombrosos Thesen gehabt, und während Lombroso diese immer hartnäckiger verteidigte, zog Lacassagne sich immer mehr von ihm zurück. Ihm war Lombrosos System zu starr, außerdem leugnete es den freien Willen und die Chance auf Rehabilitierung. Seiner Meinung nach war aber das Gehirn ein flexibles Organ, das sich entwickelte, wenn man es trainierte. In einer Studie verglich er Hunderte von Gehirnen, die Ärzten, wenig gebildeten Menschen, Analphabeten und Häftlingen gehört hatten, und suchte nach einem Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Gehirngröße. Wie bei vielen Studien jener Zeit, die auf Messungen basierten, war der Ausgangspunkt abstrus, und die Methoden waren lächerlich – es gab zum Beispiel keinen Kausalitätsnachweis. Außerdem gibt es innerhalb bestimmter normaler Parameter keinen Zusammenhang zwischen Gehirnvolumen und Intelligenz, wie Lacassagne und seine Kollegen später einsahen. Immerhin war diese Studie ein Beleg für seine wachsende Überzeugung, dass die Physiologie nicht über das Schicksal bestimmte. Im Laufe der Jahre nahm Lacassagne zahlreiche Autopsien vor, sprach mit vielen Verbrechern und untersuchte Dutzende von Kriminalfällen. Danach betrachtete er die Entwicklung zum Verbrecher als Prozess mit vielen Ursachen. Ein Mensch mochte seinem Temperament nach zu kriminellem Verhalten neigen, aber diese Tendenz setzte sich nur unter bestimmten sozialen Bedingungen durch. Meist waren Alkoholismus und Armut beteiligt. Insgesamt war das Verbrechen keine Folge der Biologie, sondern des Milieus, in dem der Verbrecher lebte.
Die Unterschiede zwischen den beiden Kollegen verschärften sich während der Konferenz in Rom drastisch. Damals war Lombroso ein Held der Wissenschaft und wurde so verehrt, dass kein Kriminologe ihm zu widersprechen wagte. Und Lacassagne war noch nicht wegen seines Beitrags zum Fall Gouffé berühmt. Zu Beginn der Konferenz hielt Lombroso einen langen Vortrag, in dem er den Stand der Kriminologie beschrieb. Er habe nicht nur die Physiognomie des geborenen Kriminellen identifiziert, behauptete er, sondern auch sensorische Eigenheiten. Seinen Forschungen zufolge seien der Geruchssinn, der Tastsinn und die Schmerzempfindung des geborenen Verbrechers reduziert, das Sehvermögen sei scharf wie bei einem Tier, und der Betreffende sei unfähig zu erröten. Lombroso hatte für seine Forschung ausgefallene neue Geräte benutzt, zum Beispiel das Zwaardemaker-Olfaktometer für den Geruchssinn, das Sieveking-Ästhesiometer für den Tastsinn und das Nothnagel-Thermästhesiometer für den Temperatursinn. Er hatte die Schmerzempfindlichkeit getestet, indem er »normalen« Freiwilligen mit einer Ruhmkorff ’ schen Induktionsspule Elektroschocks am Zahnfleisch, an den Brustwarzen, an den Augenlidern, an den Fußsohlen und an den Genitalien versetzt hatte. Dabei hatte er festgestellt, dass sie die Schocks deutlicher spürten als Häftlinge und Insassen von Nervenkliniken. Die Unempfindlichkeit der Verbrecher erinnerte ihn an Stammesvölker, »denen bei Pubertätsriten Schmerzen zugefügt werden, die ein Mensch der weißen Rasse niemals ertragen könnte«. In Lombrosos Augen war der geborene Verbrecher ein Wilder, der in der falschen Zeit und am falschen Ort lebte und im zivilisierten Europa frei herumlief.
Lacassagne hörte geduldig zu, als ein Redner nach dem anderen die körperlichen Unterschiede zwischen Verbrechern und ehrlichen Bürgern vorstellte. Einmal warnte er davor, mit der »verführerischen Hypothese« der natürlichen Selektion die Ursachen des Verbrechens übermäßig zu vereinfachen. Am dritten Konferenztag konnte er sich dann nicht länger zurückhalten. Er erklärte, dass er seit zehn Jahren Verbrecher studiere und zu dem Schluss gelangt sei, dass Lombrosos Theorie »eine Übertreibung und eine falsche Interpretation« der Evolution sei. »Was ist denn ein Atavismus?«, fragte er. »Eine zufällige Erbanlage, die vielleicht von unserem Großvater beeinflusst ist.« Die Theorie sei nicht
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