Der Weg der Helden
Anu. » Es wird weniger als ein Jahr überdauern. Die Musik, die ich spielen werde, ist sehr mächtig. Sobald sie begonnen hat, wird sie die Quader zersetzen, sie in Staub verwandeln. Der Wind wird diesen Staub über die ganze Welt verteilen. Nichts wird von der Pyramide übrig bleiben.«
» Warum, Heiliger?«, fragte Yasha entsetzt.
» Wir sitzen auf einer riesigen und wundersamen Quelle der Macht, Yasha. Und wie jede Macht kann sie zum Guten oder zum Bösen verwendet werden. Wenn ich sie hier stehen ließe, könnte irgendwann ein Mann oder eine Frau kommen und diese Musik umformen.« Er lächelte traurig. » Auch jetzt schon wird es in den kommenden Jahrhunderten viele Versuche geben, das, was wir hier geschaffen haben, erneut zu bauen. Vielleicht wird jemand sogar Erfolg haben. Ich bin nicht so überheblich zu glauben, dass ich der einzige Mann wäre, der jemals von der Quelle gesegnet wurde.« Er klopfte Yasha beruhigend auf den Arm. » Also, die Zeit läuft langsamer, Yasha, und wir müssen noch einige Angelegenheiten besprechen. Es gibt nur noch sehr wenig Avatar in den Städten; die Herrschaft wurde einem Rat der Vagaren übertragen. Aufgrund des schrecklichen Leids, das sie durch uns erlitten haben, werden sie nicht sonderlich geneigt sein, das Versprechen eines Avatar einzulösen. Vor allem keines, welches ihre Schatztruhen leert. Die Arbeiter werden in die Stadt zurückkehren und feststellen, dass man sie nicht bezahlt. Mein Akolyt und Vertrauter Shevan ist gerade dabei, ihnen das zu erklären. Er versichert ihnen außerdem, du würdest dafür sorgen, dass sie ihren Lohn erhalten. Denn du wirst mein Versprechen einlösen.«
» Und wie soll ich das tun, Heiliger?«
Anu reichte ihm die beiden Schriftrollen. » Die erste enthält mein Testament. Ich hinterlasse darin alles, was ich besitze, dir. Es kann sein, dass auch dieser Wunsch nicht respektiert wird. Das vermag ich nicht vorherzusehen. Die zweite ist eine Karte, die dir zeigt, wo ich zwölf Kisten voller Goldmünzen vergraben habe. Sie genügen, um jeden Mann zu bezahlen, der hier gearbeitet hat, und jede Hure zu entlohnen, die noch Lehmtabletts besitzt.«
» Ihr wärt ein Narr, wenn Ihr mir all das Gold anvertrauen würdet«, erwiderte Yasha. » Warum gebt Ihr es nicht Shevan?«
» Ich habe in meinem Leben viele Dummheiten gemacht, Yasha. Keine lebende Seele kann etwas anderes behaupten. Aber in diesem Punkt hatte ich Recht. Du bist ein stolzer Mann und dazu noch ehrlich. Ich würde dir gewiss nicht meine Frau oder meine Tochter anvertrauen, aber dies hier ist nur Gold. Du wirst dafür sorgen, dass es ausgezahlt wird, und du wirst es mit größter Ehrlichkeit verteilen.«
» Ja, das werde ich«, antwortete Yasha. » Ich werde es für Euch tun, Anu.«
Er schob sich die Schriftrollen in sein Hemd und seufzte. » Und warum müsst Ihr hierbleiben?«
» Ich muss es, weil ich der Deckstein bin, der Schlussstein. Ich bin der Letzte der Musik. Und jetzt musst du gehen, Yasha. Lass mich allein.«
Der große Vorarbeiter erhob sich, beugte sich dann hinab und küsste den alten Mann auf die Stirn. » Man wird Euch niemals vergessen, Heiliger.«
» Doch, das wird man«, erwiderte Anu mit einem Lächeln. » Alle Menschen werden irgendwann vergessen. Und jetzt geh!«
Yasha ging zur Leiter, warf einen letzten Blick auf den weißbärtigen alten Mann auf dem Stein und stieg dann zum Talboden hinab.
Talabans Zhi-Bogen war vollkommen leer. Er sprang von dem Felsbrocken mitten in eine Gruppe von Almecs. Sein Schwert blitzte auf, durchtrennte den Hals des ersten Gegners, während sein Dolch sich in die Brust eines zweiten bohrte. Mondstein kam mit etlichen Kriegern der Anajo aus seinem Versteck gerannt und stürzte sich mit ihnen auf die Reihen der Almecs.
Diese plötzliche Attacke überrumpelte die Angreifer, die ein Stück auf dem Weg zurückwichen. Talaban hob einen der Feuerstöcke vom Boden auf und schoss damit in die flüchtende Gruppe. Dann schleuderte er die Waffe beiseite.
Er warf einen Blick zum Himmel. Es dämmerte bereits. Sie hatten die Almecs fast einen ganzen Tag und eine Nacht aufgehalten. Es waren nur noch drei Avatar und fünfzehn Anajo am Leben. Die Verteidiger wurden immer weiter den Berg hinaufgedrängt und hatten fast auf die schmalen Wege ausweichen müssen. Noch ein Angriff, dann stünden sie schutzlos auf dem Hang, wo sie rasch überrannt werden würden.
Blut rann Talaban ins linke Auge; es sickerte aus einem Schnitt auf seiner Stirn.
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