Der Weg in Die Schatten
schlanken Gestalt (in Wahrheit ist das noch geschmeichelt; ich bin eher dürr) wird man mich wohl immer für einen Elf halten. Aus purer Eitelkeit trage ich auch mein Haar ziemlich lang. Mein Haar kann sich nämlich wirklich sehen lassen, und außerdem verdeckt es die Datenbuchsen an der Seite meines Kopfes. Nach all den Jahren möchte ich immer noch nicht, daß andere Leute das Metall in meinem Fleisch zu sehen bekommen. Die Leute nehmen aber an, das über die Ohren fallende Haar solle verbergen, daß sie spitz sind. Das ist nicht der Fall. Ich bin ein Mensch.
Einer der Halloweener kam aus der Gasse und grinste mich mit seinem grell bemalten Mund an. Das Blut auf seinem zerrissenen T‐Shirt war gewiß nicht sein eigenes. Ich tippte grüßend an den Zylinder und deutete eine Verbeugung an, dann ging ich weiter die Straße entlang. Halloweener lieben mich. Die jüngeren ahmen mich nach, tragen lange schwarze Umhänge und finstere Blicke und hängen sich an mich wie ein Rudel junger Schakale. Sie sprühen die Worte, ›Jack the Ripper regiert‹ auf Wände und Brücken, was mich entnervt. Ihre Aufmerksamkeit war mir immer lästig gewesen, bis ich entdeckte, wie ernst sie ihre Freundschaften nehmen.
Eines Abends, als ich tief in Gedanken versunken einen Spaziergang machte, beschloß ein Trio brutaler junger Polis, mir meinen Elfenschädel einzuschlagen. Im Nu hatten sie mir meinen Spazierstock abgenommen und verprügelten mich damit nach Strich und Faden. Just als einer von ihnen die darin versteckte dünne Stahlklinge entdeckte und mir eine kosmetische Gesichtsoperation verpassen wollte, kam ein halbes Dutzend wüst aussehender Halloweener um die Ecke gerannt. Der Anführer, ein stämmiger Bursche, dessen blaue Augen bösartig funkelten, sprang den größten der Poli-Schläger an und schmetterte ihn gegen eine Hauswand. Mit Augen wie Eis in den schwarzen Dreiecken riß er dem anderen die Kapuze vom Kopf und schlug dessen Kopf ein paarmal gegen die Wand.
»Hör zu, du dämlicher Drek‐Poli«, sagte er im Konversationston, »Jack hier ist unser Chummer. Unser Kumpel, verstanden?« Der andere nickte benommen. »Nein, glaub ich nicht, Poli. Schätze, ich muß dir das in dein dämliches Spatzenhirn hämmern.« Er grinste gemein und sagte dann zu mir: »Du schwirrst jetzt besser ab, Freund Jack. Du willst dir deine Stiefel doch bestimmt nicht mit Blut versauen.« Als mir ein grinsender kleiner rothaariger Halloweener meinen Spazierstock zuwarf, machte ich einen Abgang. Also sind wir Freunde, die Halloweener und ich.
Jeden Sonntagnachmittag lese ich jetzt einer Gruppe von ihnen aus Stokers Dracula vor, und mir ist zu Ohren gekommen, daß zwei der kleinen Blödmänner für Ersatzglieder sparen. Als ich mich SybreSpace, der schicksten Decker‐Bar im ganzen Plex, näherte, erwachte ich aus meinen Gedanken. Als groteske Parodie der unirdischen Schönheit der Matrix ist die Bar innen und außen mit Gebäudeumrissen aus Neon in allen der Menschheit bekannten ekelhaften Farben geschmückt. Ich griff in meinen Umhang und holte die antike Sonnenbrille heraus, die mit den runden Gläsern, die so schwarz wie englische Kohle sind, setzte sie auf und ging durch die Tür.
Drinnen war es laut und roch nach zu vielen Körpern auf zu engem Raum. Decker und Möchtegern‐Decker saßen an den Tischen und standen überall herum. Natürlich gab es auch Ausnahmen. Ich ging an einer hochgewachsenen, schlanken Messerklaue vorbei und blieb kurz stehen, um die geschmeidigen Muskeln ihres Körpers zu bewundern, die sich unter ihrer engen Lederkleidung abzeichneten. Ich wäre fast aus den Stiefeln gekippt, als sie mich in den Hintern kniff.
Die Musik wechselte abrupt von irgendeiner Pop‐Drek-Konserve zu einem wüsten elektronischen Beledi. Mit einem Lächeln sah ich zur Bühne hinauf, wo Yasmine, die Bauchtänzerin, in einem Wirbel aus Schleiern und roten Haaren auf die Bühne getanzt kam. Auf den Chromschuppen ihrer Cyberpython glitzerte ein Regenbogen aus Licht.
Während die Metallschlange ihre Taille umkreiste, wiegte sie sich sinnlich in den Hüften. Nur für einen kurzen Augenblick konnte ich die beeindruckende, brillant kolorierte Drachentätowierung sehen, die ihr rechtes Bein vom Knie bis zum Knöchel bedeckte. Dann wirbelte sie so schnell im Kreis herum, daß alles zu einem Kaleidoskop aus Bewegung und Farben verschmolz. Ich schüttelte erstaunt den Kopf und grinste. Ich war praktisch sicher, daß sie ihre Reflexe
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